Das Dekameron. Giovanni Boccaccio
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Bergamino, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, gab ihm auf der Stelle durch folgende Erzählung seine Lage zu erkennen.
„Ihr werdet wohl wissen, Herr, dass Primasso ein trefflicher Grammatiker und ein vor vielen anderen berühmter und geschickter Dichter war, weswegen er bald überall so geschätzt und geehrt ward, dass, obwohl ihn nicht ein jeder persönlich kannte, doch fast kein Mensch war, der von seinem Namen und seinem Ruf nicht schon gehört hätte. Nun traf es sich einmal, dass er sich in einem ärmlichen Aufzuge in Paris aufhielt (wie denn sein Talent, das nur wenig Unterstützung bei vermögenden Leuten fand, ihm selten einen besseren Zustand verschaffte), wo er von dem Abte zu Cligny reden hörte, von welchem man glaubte, dass er unter allen Prälaten der Kirche Gottes, den Papst ausgenommen, die größten Einkünfte besaß. Von diesem erzählte man ihm Wunderdinge, beschrieb seine Hofhaltung in den buntesten Farben, und dass man es keinem, der zu ihm käme, an Speise und Trank fehlen ließe, wenn er sich nur bei dem Abt selbst zur Tafelzeit meldete. Als Primasso dies hörte, der immer ein Vergnügen darin fand, ausgezeichnete Männer und hohe Herren kennenzulernen, entschloss er sich, hinzugehen und die hochherzige Freigebigkeit des Abtes in Augenschein zu nehmen. Er erkundigte sich, wie weit von Paris er wohne, und erfuhr, dass er sich nur etwa sechs Meilen davon auf einem seiner Landgüter aufhalte, sodass Primasso rechnete, wenn er des Morgens zeitig aufbreche, dass er um die Mittagszeit dort eintreffen könne. Er ließ sich den Weg sagen, doch weil er niemanden hatte, der ihn begleitete, so besorgte er, dass er vielleicht irregehe und an einen Ort kommen möchte, wo er nicht leicht ein Mahl fände; um nun also nicht Hunger zu leiden, fand er für gut, drei Brote mit sich zu nehmen, denn Wasser, dachte er, fände sich wohl allenthalben, wiewohl er sonst eben kein Liebhaber davon war. Die Brote steckte er in die Tasche, machte sich auf den Weg und wanderte so rasch, dass er noch vor der Mittagszeit in dem Landhause des Abtes eintraf. Er ging hinein und sah sich allenthalben um, und wie er die Menge der gedeckten Tafeln, die großen Anstalten in der Küche und alles Übrige staunend betrachtete, was Bezug auf das Mittagsmahl hatte, dachte er bei sich selbst: ‚Wahrlich, der Abt ist so gastfrei, wie man‘s ihm nachsagt.‘ Indem er seinen Geist mit alledem beschäftigte, ließ der Haushofmeister Wasser zum Händewaschen bringen, worauf sich ein jeder zu Tische setzte. Es traf sich, dass Primasso gerade der Tür gegenüber zu sitzen kam, durch die der Abt hereintreten musste, um zur Tafel zu gehen. Nun war es an seinem Hofe Brauch, weder Brot noch Wein noch etwas anderes zu essen oder zu trinken aufzutragen, bis der Abt kam und sich setzte. Wie demnach der Haushofmeister die Gäste gesetzt hatte, ließ er dem Abte sagen, das Essen sei, wenn er es befehle, zum Anrichten fertig. Der Abt ließ die Tür seines Gemachs öffnen, um in den Speisesaal zu gehen, und es traf sich, dass Primasso ihm zuerst in die Augen fiel. Da er ihn in einem sehr armseligen zerlumpten Gewande erblickte und ihn von Person nicht kannte, so kam er auf einen schlechten Gedanken, der ihm sonst noch nie eingefallen war: „Sieh mal an, was für Gesindel ich da bewirten soll!“ Damit kehrte er um und befahl, die Tür wieder zu schließen, indem er zugleich diejenigen, die um ihn waren, fragte, ob jemand von ihnen den Landstreicher kenne, der der Tür seines Gemaches gegenübersäße. Alle verneinten. Primasso, der anfing zu hungern, langte inzwischen ein Brot aus der Tasche und begann zu essen. Wie der Abt ein wenig gewartet hatte, befahl er einem von seinen Leuten, zu sehen, ob der Fremde weggegangen sei. ‚Hochwürden, nein‘, war die Antwort, ‚und er isst Brot, das er wohl muss mitgebracht haben.‘ ‚Gut‘, sprach der Abt, ‚wenn er eigenes Brot hat, so mag er‘s essen, von dem meinigen soll er nichts bekommen.‘ Er hätte nun gern gesehen, dass Primasso von selbst wieder fortgegangen wäre, denn ihn hinausweisen zu lassen hielt er denn doch für unziemlich. Primasso hatte unterdessen ein Brot verzehrt, und wie der Abt noch nicht kam, fing er an, das zweite zu essen. Dies ward ebenfalls dem Abte gemeldet, welcher wieder hingeschickt hatte, zu sehen, ob er noch nicht weggegangen wäre. Endlich, wie der Abt noch immer ausblieb, begann er auch bei dem dritten, welches abermals der Abt erfuhr, der darauf in sich ging und dachte: „Welch ein neuer Einfall ist mir heut in den Sinn gekommen? Welch ein Geiz, welch ein Unmut, und um wessentwillen? Ich habe seit vielen Jahren von dem Meinigen einem jeden zu verzehren gegeben, der Lust dazu hatte, ohne darauf zu sehen, ob er Edelmann oder Bauer, arm oder reich, Kaufmann oder Beutelschneider wäre, und mancher Schlingel hat mir‘s vor meinen Augen verprasst, ohne dass mir so was jemals eingefallen wäre; und heute muss mir das mit diesem Menschen begegnen? Wahrlich, der Geiz kann mich nicht um eines gleichgültigen Menschen willen angewandelt haben. Dieser, der mir wie ein Bettler vorkommt, muss ein Mann von Bedeutung sein, weil ich einen so sonderbaren Widerwillen fühlte, ihn zu bewirten.‘ Er verlangte nun durchaus zu wissen, wer der Mann wäre, und wie er erfuhr, dass es Primasso war, den er dem Namen nach schon längst als einen verdienten Mann kannte und der gekommen war, um seine Gastfreiheit, die man ihm gerühmt hatte, zu sehen, schämte er sich, und aus Eifer, es wieder gutzumachen, bestrebte er sich, ihn aufs Beste zu bewirten. Nach Tische ließ er ihn auf eine seinen Verdiensten angemessene Art prächtig kleiden, gab ihm Geld und ein schön aufgezäumtes Pferd und ließ ihm freien Willen, zu bleiben oder heimzugehen. Primasso war erfreut darüber, dankte dem Abte aufs Angelegentlichste und ritt auf einem schönen Gaul nach Paris zurück, woher er zu Fuße gekommen war.“
Messer Cane, als ein scharfsinniger Mann, verstand ohne weitere Erklärung vollkommen, was Bergamino sagen wollte, und sprach lächelnd zu ihm: „Bergamino, du hast deine üble Lage, deinen Wert, meine Knickrigkeit und deine Wünsche klar genug dargelegt, und ich versichere dir, dass mich, außer in deinem Falle, der Geiz noch nie angewandelt hat. Ich will ihn aber mit eben dem Prügel wieder fortjagen, den du mir selbst in die Hand gegeben hast.“ Hierauf ließ er den Wirt bezahlen, dem Bergamino seine drei Kleider wiedergeben und ihn sehr ehrenvoll mit einem seiner eigenen Kleider schmücken, gab ihm Geld und ein schönes Reitpferd und stellte ihm frei, zu reisen oder bei ihm zu bleiben.
ACHTE NOVELLE
Gugliermo Borsiere beschämt mit einem Scherzwort den geizigen Herrn Ermino de Grimaldi.
Die Schlagfertigkeit des Bergamino fand viel Lob. Neben Filostrato saß Lauretta, die es nun ihrerseits für ihre Pflicht hielt, etwas zu erzählen. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, hub sie mit sanfter Stimme also an:
Die eben gehörte Geschichte gibt mir erwünschten Anlass, liebe Gespielinnen, davon zu berichten, wie einst ein Herr vom Hofe auf ähnliche Weise und nicht umsonst den Geiz eines schwerreichen Kaufmannes an den Pranger stellte. Lasst euch meine Geschichte aber darum nicht weniger lieb sein, weil sie mit der vorigen den Ausgang fast gemein hat. Sie nimmt ein gutes Ende. Und: Ende gut, alles gut.
Es war einmal vor langer Zeit in Genua ein angesehener Mann namens Messer Ermino de Grimaldi, der nach jedermanns Meinung an ausgedehnten Besitzungen und barem Vermögen, an unermesslichem Reichtum die begütertsten Bürger, die damals in Italien lebten, bei Weitem übertraf. Allein, so wie er es jedermann an Reichtum zuvortat, so übertraf er auch an Geiz den ärgsten Filz der Welt in höchstem Maße, sodass er nicht nur seine Börse nie zog, um anderen etwas zukommen zu lassen, sondern dass er auch sich selbst die notwendigsten Bedürfnisse versagte. Wider die Gewohnheit der Genueser, die sich gerne prächtig kleiden, mangelte es ihm nicht nur an anständiger Kleidung, sondern er darbte sich‘s auch ab am Essen und Trinken, um nur sein Geld nicht auszugeben. Deswegen nannte man ihn auch nicht mehr bei seinem Familiennamen Grimaldi, sondern er hieß allenthalben