Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann

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die Straße. Und warum das Opfer schlachten, da so viele starke Männer es leicht hätten erwürgen können? Zeigen Sie mir den ärztlichen Befund, Monsieur, ob darin von einem Stich und nicht vielmehr von einem Riß die Rede ist. Und welches Geschwätz, das mit dem Leichenzug, welche verräterischen Anstalten in einem Land, wo jeder Grenzpfahl Augen hat! Man beschuldigt mich, am andern Morgen in meines Oheims Haus gestürmt zu sein und Papiere geraubt zu haben. Wo sind diese Papiere? Mein Oheim starb fast arm. Seine Forderung an mich ist an den Präsidenten Seguret übergegangen. Wozu also die Tat? Was will man von mir? Wer, der Augen hat, sieht meine Hände befleckt?«

      Diese Sprache war herausfordernd. Sie erweckte den Unwillen des Gerichts und den gesteigerten Haß der Menge, die davon entstellte Kunde erhielt. Aus Angst vor dem Volk wagte kein Advokat die Verteidigung Bastide Grammonts zu übernehmen. Monsieur Pinaud, der allein den Mut hatte, auf die Unwahrscheinlichkeit und die abenteuerliche Herkunft der meisten Zeugenaussagen zu verweisen, hätte seinen Eifer für die Wahrheit fast mit dem Leben bezahlen müssen. Eines Nachts zog ein Pöbelhaufen, darunter auch Bauern, vor sein Haus, zertrümmerte die Fensterscheiben, demolierte das Tor und legte Feuer auf der Treppe an. Nur mit Mühe konnte sich der erschrockene Mann ins Freie retten, und er floh nach Toulouse.

      Wohl erkannte Bastide Grammont, daß es für ihn zunächst keinen Widerstand gab; er entschloß sich, alle Tapferkeit in Geduld zu verwandeln und seine Lippen so zu verschließen, als ob sie die Türen wären, durch welche die Hoffnung entfliehen könnte. Er, der freieste der Menschen, mußte die strahlenden Tage des Frühlings, die duftigen Abende des Sommers in einem feuchten Loch zubringen, das den eigenen Atem ekel machte; er, zu dem die Tiere redeten, den die Blumen mit Augen anblickten, für den die Erde zu gewissen Zeiten etwas wie einen Glanz von Verliebtheit hatte, der zu gehen, zu schreiten, zu wandern, zu reiten wußte so wie Künstler entzückende Werke schaffen, er mußte, durch ein widersinniges Spiel unbegreiflicher Umstände bezwungen, den Vorgeschmack des Grabes kosten und entbehren, was ihm das innerste und eigenste des Lebens war. Häufig wurden die Nächte des Trotzes, wo der Blick überfloß und stumpf wurde im Gedanken der Schmach; häufiger die Tage nicht zu beherrschender Sehnsucht, wo jedes von der nassen Mauer bröckelnde Sandkorn an das wunderbare Wirken und Weben der Erde, der Wiese, des Waldes gemahnte. Von den Ereignissen, die sein Schicksal verdunkelt hatten, wandte er alles Nachdenken angewidert ab, und er hörte es kaum, als eines Morgens der Wärter erschien und ihm frohlockend mitteilte, daß die geheimnisvolle Unbekannte, welcher es bestimmt war, Haupt-und Kronzeugin zu werden, die Dame mit den grünen Federn endlich gefunden sei; sie habe sich selbst gemeldet und es sei die Tochter des Präsidenten Seguret, Madame Clarissa Mirabel.

      Bastide Grammont blickte finster vor sich hin. Aber von Stund an umflatterte dieser Name sein Ohr wie der Flügelschlag des unabwendbaren Fatums.

      So war es: Madame Mirabel hatte bekannt, daß sie während der Mordnacht im Bancalschen Haus gewesen sei. Doch geschah dies Geständnis im Drang eines sonderbaren Augenblicks, und es verfloß nicht so viel Zeit, wie das flinke Gerücht brauchte, um offenbar zu werden, da nahm sie alles wieder zurück. Aber das Wort war gefallen und zeugte Tat auf Tat.

      Clarissa Mirabel war das einzige Kind des Präsidenten Seguret. Sie war auf dem Land erzogen worden, in dem alten Schloß Perrié, das ihr Vater beim Anbruch der Revolution gekauft hatte. Die politischen Stürme und die Unsicherheit der Zustände waren schuld, daß sie in ihrer Kindheit keines regelmäßigen Unterrichts genoß. Die tiefe Abgeschiedenheit, in der sie aufwuchs, begünstigte ihre Anlage zur Schwärmerei. Sie vergötterte ihre Eltern und in den bewegten Zeiten der Anarchie zeigte die erst vierzehnjährige Jungfrau an der Seite ihres Vaters einen solchen Opfermut und solche Hingabe, daß sie dadurch die Aufmerksamkeit des Oberst Mirabel erregte, der dann fünf Jahre später kam und um sie warb. Sie liebte ihn nicht, – kurz vorher hatte sie ein seltsam-romantisches Verhältnis mit einem Hirten der Gegend angeknüpft, – doch heiratete sie, weil ihr Vater es befahl. Die Ehe war nicht glücklich; nach drei Monaten trennte sie sich von ihrem Mann; der Oberst ging mit dem Heer nach Spanien. Als der Krieg zu Ende war, kam er zurück und ließ Clarissa sein Verlangen andeuten, daß sie bei ihm wohnen solle, doch weigerte sie sich, erklärte auch schriftlich ihre Weigerung, zornig darüber, daß er fremde Leute schickte, um mit ihr zu unterhandeln. Doch erfuhr sie, Mirabel sei verwundet, und dies änderte ihren Sinn. In der Nacht, auf verborgenen Wegen, unter umständlichen Förmlichkeiten wurde der Oberst ins Schloß getragen, und in einem abgelegenen Zimmer pflegte ihn Clarissa mit treuer Sorgfalt. Solange es geheim blieb, fesselte sie die neuartige Beziehung zu dem Mann als Liebhaber, doch die Mutter entdeckte alles und glaubte, der völligen Aussöhnung zwischen den Gatten stehe nichts im Wege. Clarissa wußte ihren Mann zu entfernen; in einem Gehölz beim Dorf hatte sie abendliche Zusammenkünfte mit ihm. Oberst Mirabel wurde aber des wunderlichen Treibens überdrüssig; er erhielt eine Anstellung in Lyon, starb aber kurz darauf an den Folgen seiner Ausschweifungen.

      Jahre gingen hin; auch die Mutter starb und die Trauer Clarissas war so groß, daß sie tagelang nicht vom Grabe wich und nur durch den Einfluß des leichter getrösteten Vaters zu bewegen war, sich wieder in das einsam-leere Dasein zu fügen. Völlig sich selbst überlassen, ergab sie sich dem Genuß ungewählter Lektüre und ihre Wünsche richteten sich mit verborgener Glut auf große Erlebnisse. Sie brachte sich durch auffällige Neigungen und Gewohnheiten in das kleinstädtische Gerede; sie ließ Kinder und halbwüchsige Knaben und Mädchen ins Schloß kommen, deklamierte ihnen Verse und richtete sie zum Theaterspielen ab. Ihr zwangloser Charakter erweckte Feinde; sie sagte, was sie dachte, verletzte ohne böse Absicht, stiftete Verwirrung und Klatsch in aller Unschuld, übertrieb das Geringfügige und übersah das Große, gefiel sich zuweilen in Maskeraden, Verkleidungen und erdichteten Rollen und bezauberte doch wieder den Empfänglichen durch die Anmut ihrer Rede, die heitere Beweglichkeit ihres Geistes, das gewinnend Herzliche ihrer Manieren.

      Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt; aber nicht nur, weil sie außerordentlich schlank, klein und zart war, sah sie aus wie ein achtzehnjähriges Mädchen, sondern es war auch in ihrem Wesen eine tiefe und ungewöhnliche Jugend, und wenn ihr Auge voll und nachdenklich auf einem Gegenstand ruhte, hatte es die Klarheit und träumerische Süße des Kinderblicks. Sie war gleichsam ein Erzeugnis der Grenze: südliche Lebhaftigkeit und nordische Schwere waren zu ruheloser Mischung gediehen; sie grübelte gern und wie ein Tierlein spielend, vermochte sie in Männern aller Art ein mit Scheu gemengtes Begehren zu erregen.

      Von der Flut der Gerüchte über den Tod des Advokaten Fualdes blieb sie zunächst unberührt, obwohl ihr Vater durch den Kauf der Domäne La Morne mittelbar an den Ereignissen beteiligt schien und täglich neue Nachrichten ins Schloß getragen wurden. Der Vorfall war ihr zu verwickelt und alles was damit zusammenhing, roch so sehr nach Schmutz. Erst als der Name Bastide Grammonts genannt wurde, horchte sie auf, verfolgte die Dinge und ließ sich den geglaubten Hergang vom Vater oder von den Dienerinnen berichten, wobei sie mehr Teilnahme als Verwunderung bezeigte.

      Sie wußte nichts von Bastide Grammont. Des ungeachtet fiel sein Name, kaum daß sie ihn gehört, wie ein Gewicht in ihr lauschendes Innere. Sie fing an, sich nach ihm zu erkundigen, unternahm heimliche Ritte nach La Morne und brachte den einen oder andern seiner Leute über ihn zum Reden, ja einmal gelang es ihr sogar, mit Charlotte Arlabosse zu sprechen, die um jene Zeit schon wieder in Freiheit war. Was sie vernahm, erzeugte in ihr ein eigentümliches, schmerzhaftes Staunen; ihr war zumut, als hätte sie eine wichtige Begegnung versäumt.

      Dazu kam, daß sie sich plötzlich erinnerte, ihn gesehen zu haben. Er mußte es gewesen sein, wenn sie die verworrenen Schilderungen seiner Person nur halbwegs recht verstand. Es war ein Jahr zuvor gewesen, an einem frühen Morgen im ersten Frühjahr. Von der allgemeinen Unruhe gepackt, durch die der erwachende Lenz das Blut aufwühlt und den Schlaf schneller als sonst beendigt, hatte sie das Schloß verlassen und war zu Fuß über die Weinbergwege in das bewaldete Tal von Rolx gewandert. Und während sie durch die sonnebeglänzten, feuchten Gebüsche schritt, über sich das Jubeln der Singvögel und das glühende Blau der Himmelskugel, unter sich die wie ein Leib atmende Erde, hatte sie einen Mann von mächtigem Gliederbau gewahrt, der aufrecht dastand, barhäuptig, die Nase in der Luft

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