Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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So gab er zu, daß er ins Bancalsche Haus gekommen sei und daß die Eheleute Bancal, der Tabakshändler, der Soldat Colard, der Schmuggler Bach, zwei junge Frauenzimmer und eine verschleierte Dame im Zimmer gewesen seien. Je mehr Personen er nannte, einen je versöhnlicheren Ausdruck zeigte das Gesicht des Richters, und wie vor den Rachen eines hungrigen Tieres warf er gleichmütig Brocken um Brocken hin. Er mochte sich wohl aus andern Nächten der bunten Gesellschaft in Bancals Stube entsinnen, und so erschien ihm die Person der verschleierten Dame als eine Zutat, die seinen Kredit steigern konnte. Aber Monsieur Jausion fand, daß eine wichtige Figur fehle, und er fragte mit Strenge, ob Bousquier nicht jemand vergessen habe. Bousquier erschrak und überlegte. »Besinne dich gut, Bousquier,« drängte der Richter, »was du verschweigst, kann zum Strick für deinen Hals werden. Also sprich: war nicht auch ein großer starker Mann zugegen?« Bousquier sah ein, daß diese neue Person dazu gehöre. Schattengestalt auf Schattengestalt, zuchtlos und abenteuerlich, tauchte in seinem zerrütteten Kopf empor, und er mußte die Puppen spielen lassen, um seine Peiniger zu befriedigen. Auf die Frage, wie der große starke Mann ausgesehen und wie er gekleidet gewesen, antwortete er: »wie ein Herr.«
Und nun hieß es erzählen, den Schauplatz beleben. Auf dem großen Tisch in Bancals Zimmer lag nicht etwa der Ballen Tabak, um dessentwillen er gerufen worden, sondern eine Leiche. Er wollte fliehen, da eilte ihm der große starke Mann nach und bedrohte ihn mit der Pistole.
Der Richter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Mit der Pistole?« fragte er. »Denke nach, Bousquier, war es nicht vielleicht ein Gewehr? war es nicht eine Doppelflinte?« Gut denn, dachte Bousquier wütend, wenn man auf eine Flinte versessen ist, kann es auch eine Flinte gewesen sein; er nickte, als fühle er sich beschämt, und fuhr fort, daß er, solchermaßen am Leben bedroht, in Bancals Stube bleiben und den Helfershelfer machen mußte. Der Tote wurde in ein leinenes Tuch gewickelt, mit Stricken umwunden und auf die Tragbahre gelegt. Diese Tragbahre war mit Hilfe des Gefängniswärters in Bousquiers Phantasie bis zur Vollkommenheit vorbereitet. Doch als er nun den Leichenzug beschreiben sollte, verlor der gemarterte Mensch die Besinnung, und wie er am späten Abend noch einmal zum Verhör geführt wurde – selten versagte die Nacht und das Kerzenlicht im öden Saal seine gespenstigen Wirkungen – da leugnete er wider Erwarten alles ab, weinte, schrie, betete und benahm sich völlig sinnlos. Um ihn zu ermutigen und zu beruhigen, griff Monsieur Jausion zu einem ebenso einfachen als kühnen Mittel; er sagte nämlich, Bach und Colard hätten heute gleichfalls ein Geständnis abgelegt, und es sei erfreulich, daß ihre Angaben mit denen Bousquiers übereinstimmten; wenn er sich nun vernünftig benehme, so sollte er bald das Gefängnis verlassen dürfen.
Bousquier stutzte. Je länger er überlegte, einen je tieferen Eindruck machte ihm das Vernommene. Sein Gesicht wurde bleich und am ganzen Leibe wurde ihm kalt. Es war wie wenn ein wüster Traum plötzlich unleugbares Wachen wird oder wie wenn jemand, der in halber Trunkenheit die erlogene Geschichte eines Unglücks erzählt und mit jeder neuen Einzelheit gewaltiger ins Lügen verwoben wird, plötzlich erfährt, daß sich alles in Wirklichkeit so zugetragen. Eine wunderliche Schwermut nahm von ihm Besitz, ihm graute vor dem Alleinsein in seiner Zelle und er spürte Angst vor dem Schlaf.
In fieberhafter Gier hatte ganz Rhodez den Angaben Bousquiers gelauscht. Endlich erhielt die Gestalt des Unbekannten mit der Doppelflinte Nähe und Greifbarkeit. Daß er ausgesehen wie ein Herr, stachelte die Wut des Volkes, und die legitimistische Partei, die sich zumeist aus den Reichen und Vornehmen zusammensetzte, begann zu zittern. Wahrscheinlich wurde in ihrer Mitte zum ersten Mal der Name genannt, der erst vorsichtig, dann ungescheut, dann anklagend von Mund zu Mund lief und über dem die Wetterwolke, die sich aus einem Nebelstreif gebildet hatte, blitzezuckend stille stand. Es war bekannt, daß Bastide Grammont, der Pächter von La Morne, trotz seiner Verwandtschaft mit dem Advokaten Fualdes in Feindseligkeit oder doch in der drückenden Abhängigkeit eines Schuldners zu dem Alten lebte. Jedermann wußte oder glaubte doch zu wissen, daß es oft stürmische Auftritte zwischen Oheim und Neffen gegeben hatte. War das nicht genug? Dazu das herrische Temperament und herbe Wesen Bastides, der rasche Verkauf von La Morne und eine wohlgegliederte Kette kleiner Verdachtsmerkmale, wer durfte noch zweifeln?
Der unermüdliche Schmied, der da irgendwo in den Lüften oder unter der Erde am Werk war, sorgte dafür, daß der Ring des Verderbens sich schloß und warb mit tückischer Laune seine Gesellen auf allen Gassen, bei hoch und niedrig. Am Vormittag des neunzehnten März waren Fualdes und Grammont auf der Promenade von Rhodez auf-und abgegangen. Eine Trödlerin hatte gehört, wie der Junge zum Alten sagte: »Also heute abend um acht Uhr.« Ein Maurer, der an einem Neubau Sand schaufelte, hatte vernommen, wie Monsieur Fualdes ausrief: »So hältst du mir Wort?« Worauf Bastide Grammont erwiderte: »Beruhigen Sie sich, heute abend werde ich Ihnen die Rechnung machen.« Der Musiklehrer Lacombe erinnerte sich deutlich, wie Bastide dem Alten mit zornfinsterem Gesicht zugerufen: »Sie treiben mich zum Äußersten.« Das zufällige Geschwätz eines Schwätzers gewann im geschäftigen Hörensagen dieselbe Wichtigkeit, wie die ehrlich bewiesene Wahrnehmung, und was etwa vorher oder nachher geredet worden, vermischte und verknüpfte sich zu frecher Willkür. So wollte Professor Vignet, eines der Häupter der Royalisten, gegen sieben Uhr abends, kurz vor dem Mord, in einen Obstladen gekommen sein und dort einen Kollegen getroffen haben. Er erzählte, daß er Bastide Grammont gesehen habe, der in ziemlicher Eile an ihm vorübergegangen war. Er behauptete, ausgerufen zu haben: »Finden Sie nicht, daß Grammont ein unheimliches Gesicht hat?« Worauf der andere bejahte und erwiderte, man müsse sich vor dem Manne hüten. Es meldeten sich Zeugen, die dieses Gespräch bestätigten. Es meldeten sich Zeugen, die Bastide vor dem Bancalschen Hause gesehen haben wollten; er habe mehrmals einen scharfen Pfiff ausgestoßen und sich dann in den Schatten geduckt.
Seit fünf Jahren hauste Bastide Grammont auf La Morne. Er war vielleicht der einzige Mann im ganzen Bezirk, der sich niemals um Politik bekümmerte und allem Parteitreiben fernblieb, und diese stolze Unabhängigkeit gab ihn dem Übelwollen, ja dem Haß seiner Mitbürger preis. Als einmal in Rhodez eine Kundgebung für die Bourbonen stattfinden sollte und die Straßen von einer aufgeregten Menge erfüllt waren; ritt er auf seinem Apfelschimmel gravitätischkühl durch die erhitzten Gruppen und lächelte den beleidigten wilden Blicken, die ihn trafen, mit Geringschätzung entgegen.
Man erzählte, daß er seine Jugend und ein beträchtliches Vermögen in Paris vergeudet habe und daß er von dort menschensatt in die Heimat zurückgekehrt sei. Seine Gepflogenheiten deuteten auf einen das Absonderliche liebenden Geist. In früheren Jahren war ein gelehrter Pater der benachbarten Benediktinerabtei oftmals bei ihm zu Gast gewesen; es hatte geschienen, als ob der stille Mann und Menschenkenner an dem ungebundenen Wesen und der heidnisch-brünstigen Naturvergötterung des Einsiedlers Bastide seine heimliche Freude habe; aber als Bastide eine Näherin aus Alby, die hübsche Charlotte Arlabosse, gewaltsam entführt hatte und in wilder Ehe mit ihr lebte, mußte der Benediktiner, dem Befehl seiner Oberen gehorchend, den Verkehr abbrechen.
Von da an verzichtete Bastide überhaupt auf jeden vertraulichen Umgang. Er hatte keinen Freund, wünschte keinen Freund. Hochmütig schloß er sich ab; der Anblick eines neuen Gesichts machte seine Züge fremd und kalt; den Leuten aus der Gesellschaft begegnete er mit verletzender Gleichgültigkeit. Vielleicht war es nur die Furcht vor Enttäuschung, wenn er sich auch dem herzlichsten Werben schroff versagte, denn es lag bisweilen in der Tiefe seines Auges die Sehnsucht selbstungewisser Liebe. Hart werden, weil unerfüllte Ansprüche die Seele beschweren und verdunkeln, einsam bleiben, weil überhebender Stolz sich scheut, das erglühte Herz