Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
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Er kam weder nach La Morne, noch kehrte er in seine Wohnung zurück. Am andern Morgen sah die Frau eines Schneiders aus dem Dorfe Aveyron seine Leiche in einer untiefen Stelle des Flusses liegen, rannte nach Rhodez und holte Leute herbei.
Die felsige Böschung der Ufer war an jener Stelle senkrecht und über zwölf Meter hoch. Von dem schmalen Fußpfad, der aus Rhodez gegen die Weinberge führte, war ein großes Stück losgebröckelt; kein Zweifel, daß der unglückliche Mann dadurch in die Tiefe gestürzt war. Es hatte am Tage zuvor heftig geregnet, und das Erdreich oben war, nach dem Zeugnis einiger Winzer, schon längst locker gewesen. Auffallend erschien eine tief einschneidende Rißwunde am Hals des Toten; da aber aus dem Gestein des Abhangs überall scharfe schiefrige Platten hervorragten, erklärte sich eine solche Verletzung von selbst. Bei der Untersuchung der steilen Wand wurden keine Blutspuren an Stein und Erde gefunden; der Regen hatte alles abgewaschen.
Die Kunde des Ereignisses verbreitete sich rasch, und den ganzen Tag über standen fortwährend zwei bis dreihundert Rhodezer, Männer, Weiber und Kinder, an beiden Ufern und starrten mit einem Ausdruck der Lüsternheit und des selbstgeschaffenen Gruselns in die Tiefe der Schlucht. Es wurde erwogen, ob nicht etwa ein Irrlicht den alten Mann verführt habe. Eine Frau wollte mit einem Hirten gesprochen und dieser Hirt wollte einen Hilferuf vernommen haben; allerdings war das schon gegen Mitternacht gewesen und Fualdes hatte um acht Uhr das Haus verlassen. Ein dicker Töpfer bestritt, daß die Finsternis so dicht gewesen sei wie alle glaubten; er selbst sei um neun Uhr von La Valette her über die Felder gegangen und da habe der Mond geschienen. Ihn wies der Zollaufseher unwillig zurecht und bedeutete ihm, daß gerade gestern Neumond gewesen sei, man brauche ja nur den Kalender aufzuschlagen. Jener zuckte die Achseln, als wolle er sagen, in solchen Zeitläuften sei sogar dem Kalender nicht zu trauen.
Um die Dämmerungsstunde wanderten die Leute heimwärts, paarweise und in Gruppen, bald plaudernd, bald schweigend, bald streitend, bald geheimnistuerisch flüsternd. So wie argwöhnisch gemachte Hunde immer um dieselbe Stelle im Kreis herumrennen, schnappte ihre hungrige Begier nach neuer Erregung. Sie spähten mit aufmerksamen Augen vor sich hin, sie vernahmen mit wacheren Ohren jedes gesprochene Wort. Manche blickten einander mißtrauisch von der Seite an; wer Geld liegen hatte, versperrte seine Tür und überzählte es. Abends in den Weinkneipen wurde von den ungeheuern Reichtümer erzählt, die der geizige Fualdes im Lauf der Jahre aufgestapelt; das Gut La Morne habe er nur deswegen verkauft, weil er Scheu getragen, den Pächter Grammont, der sein Neffe war, mit den Rechtsmitteln zur Bezahlung der seit zwei Jahren fälligen Pachtsumme zu zwingen.
Das geredete Wort blieb lauernd auf der Lippe stehen und riß ein noch halbgedachtes mit. Unter den Bürgern galt es als eine ausgemachte Sache, daß Fualdes, der liberale Protestant, der ehemalige Beamte des Kaiserreichs, mit Drohungen gegen sein Leben verfolgt worden sei. Die verdüsterten Gedanken spannen emsig an dem Gespinst der Furcht. Die noch an einen Unfall glaubten, verschwiegen ihre Gründe, sie mußten sich hüten, daß nicht Verdacht auf sie falle. Schon wurde eine Reihe von Verbündeten bezeichnet, der feindlichen, drohenden, übermütig gewordenen Partei der Legitimisten entstammend. Der dunkle Haß deutete auf die Jesuiten und ihre Millionen als Urheber der ungewissen Tat. Wie oft hatte die Gerechtigkeit gezaudert, wenn die Macht der Mächtigen den Verbrecher beschirmte!
Die Frühlingssonne des nächsten Tages leuchtete in gespannte, aufgewühlte, suchende, zu langsamer Wildheit sich entflammende Gesichter. Die Royalisten fingen an, um Hab und Gut besorgt zu werden; um sich zu schützen, auch angesteckt vom allgemeinen Schauder, den das Unbekannte ausströmte, gaben sie zu, daß ein Frevel geschehen sei. Aber wie? und wo? und durch wen?
Ein Schuster hat gewöhnlich ein besseres Gedächtnis und einen geschäftigeren Geist als andere Leute. Der Schuster Escarboeuf pflegte bisweilen in der Versperstunde seine Nachbarn und Getreuen um sich zu versammeln. Er erinnerte sich genau dessen, was der Doktor beim Leichenbefund gesagt hatte; er war daneben gestanden und hatte es Silbe für Silbe gehört. »Das sieht ja beinahe aus, als ob der Mann geschlachtet worden wäre«; dies waren die verwunderten Worte des Doktors gewesen, während er die Verletzung am Hals untersucht hatte. »Geschlachtet? was sprichst du da, Mann?« fiel einer ein. »Ja, geschlachtet!« rief der Schuster triumphierend. – »Aber es soll doch Sand an der Wunde geklebt haben«, bemerkte ein junger Mensch schüchtern. – »Ach was, Sand, Sand!« eiferte der Schuster, »was beweist denn Sand!« – »Nein, Sand beweist gar nichts«, gaben alle zu. Und schon am Mittag hieß es in allen Häusern des Viertels: Fualdes ist geschlachtet worden, sie haben ihn abgeschlachtet. Das Wort gab den entzündeten Gehirnen ein Bild, den raunenden Zungen einen Hinweis.
Nun hatte ein unheimlicher Zufall es gefügt, daß der Nachtwächter an dem verhängnisvollen Abend vor dem Bancalschen Haus, das durch die finstre Quergasse de l’Ambrague vom Haus des Advokaten Fualdes getrennt lag, einen Stock mit Elfenbeingriff und vergoldetem Ring gefunden und in der Wachtstube abgegeben hatte. Fualdes’ Wirtschafterin, ein altes taubes Weib, bezeichnete den Stock mit Sicherheit als Eigentum ihres Herrn; ihre Behauptung schien unwidersprechlich. Viel später stellte es sich heraus, daß der Stock einem durchreisenden Kaufmann gehörte, der mit einigen Dirnen die Nacht verlumpt hatte; aber jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit auf einmal und mit vorbereiteter Glut auf das übelberufene Bancalsche Haus, ein verfallenes, dumpfes Gebäude mit feuchten schmutzigen Winkeln. Früher hatte es ein Schlächter besessen, und auf dem Hof wurden noch Schweine gehalten. Es war ein Gelegenheitshaus und wurde allnächtlich von Soldaten, Schmugglern und verdächtigen Mädchen besucht; auch dichtverschleierte Damen und vornehme Herren huschten bisweilen dort ein und aus. Im Erdgeschoß wohnten außer dem Ehepaar Bancal der ehemalige Soldat Colard mit seiner Geliebten, die Dirne Bedos und der bucklige Missonier, oben hauste ein alter Spanier namens Saavedra mit seiner Frau, ein politischer Flüchtling, der in Frankreich Schutz gesucht.
Am Nachmittag des einundzwanzigsten März stand der Soldat Colard am Eck der Rue de l’Ambrague und blies auf der Flöte eine eintönige Melodie, die er von den Schafhirten der Pyrenäen gelernt hatte. Da kam der Krämer Galtier des Weges, blieb stehen, stellte sich als ob er zuhöre, unterbrach aber schließlich den Musikanten und sagte streng: »Was treibst du dich herum und gibst dich unwissend, Colard? Weißt du denn nicht, daß in euerm Haus der Mord geschehen sein soll?«
Colard schob den struppigen Schnurrbart von den Lippen und erwiderte, er und Missonier seien an dem Abend in der Weinwirtschaft bei Rose Feral gewesen, neben dem Bancalschen Haus. »Hätt’ ich Lärm gehört,« sagte er prahlerisch, »so wär ich gekommen und hätte gerettet, denn ich habe zwei Gewehre, Herr.«
»Wer war denn sonst noch bei Rose Feral?« forschte der Krämer. Colard dachte nach und nannte Bach und Bousquier, zwei berüchtigte Schmuggler. »Die Strolche, sie mögen sich hüten,« sagte der Krämer, »und du, Colard, komm’ mit, der arme Fualdes wird begraben, da ist es nicht in der Ordnung, Flöte zu blasen.«
Kaum waren sie auf die Hauptstraße gelangt, wo sich eine zahlreiche Menschenmenge angesammelt hatte» so gesellte sich plötzlich Bousquier zu ihnen, der ein seltsames Betragen zeigte, bald lachte, bald den Kopf schüttelte, bald blöde vor sich hinglotzte. Colard sah ihn scheu von der Seite an, und der Krämer, der an nichts andres dachte als an den Mord und in alledem die Kapriolen des bösen Gewissens zu sehen vermeinte, beobachtete den Mann scharf. Auch die Umstehenden wurden aufmerksam und jedem leuchtete es sogleich ein, daß, wenn irgendwer von dem in Bancals Haus geschehenen Verbrechen wissen könne, dies Bousquier sei. Der aufgeregte Galtier fragte ihn geradezu und mit lauter Stimme. Bousquier war angetrunken, der ungewohnte Menschentumult berauschte ihn noch mehr, er schien verlegen, empfand sich aber zugleich als wichtige Person. Erst