Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt. Ulrike Schmitzer

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Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt - Ulrike Schmitzer

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Tolstoi, Bernhard, Kafka, Mann. Endlich werde ich Zeit haben, alles zu lesen! Ich werde jeden Tag drei Stunden lesen, zwei Stunden meine Mails erledigen, zwei Stunden an neuen Projekten arbeiten. Ich werde mit tollen Ideen in die Arbeit zurückkommen. So war der Plan. Dann war alles anders. Die ersten Tage war ich zu aufgewühlt, um in Ruhe zu lesen. Dann dehnte sich die Schwere von meinem Körper in meinen Kopf aus. Ich nahm ein Buch zur Hand und verspürte keinen Drang, es zu lesen. Es war einerlei, was darin stand.

      Sie lesen nicht, stellte der Psychologe fest.

      Nein, sagte ich. Ich habe keine Lust.

      Was denken Sie, warum Sie keine Lust haben, fragte der Psychologe.

      Ich bin zu müde, sagte ich.

      Müde wovon, fragte er.

      Ich starrte nur in den Gang und gab ihm keine Antwort. Er machte sich Notizen.

      Die Astronauten, sagte er, die Tür schon in der Hand, sagen, sie fühlen sich in der Schwerelosigkeit wie zu Hause. Sie können sich schon nach ein paar Tagen nicht einmal mehr daran erinnern, wie es war, als die Schwerkraft den Körper nach unten gezogen hat. Ins All zu gehen, ist wie zurückzukehren. Zurückzukehren zu einem ursprünglichen Zustand. Man schwebt wie ein Fötus im Bauch der Mutter. So ist die Schwerelosigkeit. Sagen sie.

      In den folgenden Nächten schlief ich noch schlechter. Ich träumte davon, in einer riesigen Höhle zu schwimmen. Ich hatte Blei an den Armen hängen. Es zog mich aber nach oben, immer tiefer in die dunkle Welt. Alles stand auf dem Kopf, ich wusste, ich musste nach unten, unten gab es Sauerstoff. Ich bekam keine Luft mehr. Ich bäumte mich noch im Schlaf auf. Saß aufrecht im Bett. Darüber erschrak ich noch mehr als über meinen Traum.

      Im zweiten Monat fühlte ich mich besser. Ich hatte eine seitliche Stellung entwickelt, in der ich bequem lesen konnte, ohne dass mir der Arm einschlief. Und ich konnte beim Lesen wieder Sinnzusammenhänge herstellen. Ich dachte natürlich auch darüber nach, was sie von mir wollten. Ob sie meine soziale Kompetenz, meine Kommunikationsfähigkeit testeten. Ich bemühte mich, Beziehungen zu einigen der Betreuer herzustellen. Verwickelte sie in Gespräche, heiterte sie auf, gab die Gutgelaunte. Möglicherweise war das aber gar nicht gewünscht. Vielleicht suchten sie Einzelkämpfer, die in jeder noch so belastenden Situation in sich ruhen und sich von niemandem beeinflussen lassen.

      Seien Sie einfach Sie selbst, sagte er immer.

      Doch wer bin ich selbst, fragte ich mich.

      Im dritten Monat wurde ich euphorisch. Nur noch vier Wochen, nur noch drei Wochen, zwei Wochen. Der Countdown.

      Was würden Sie sagen, fragte der Psychologe, wenn wir den Versuch noch zwei Monate fortsetzen?

      Es war wie ein Stromschlag. Die Haut auf meinem Kopf brannte bis in den Nacken hinunter.

      Kein Problem, sagte ich.

      Danach durfte ich nach Hause fahren.

      Im Schlaflabor wird sicher alles besser.

      Ich brauchte Wochen, um wieder alle Muskeln unter Kontrolle zu bekommen. Gehen zu können fühlte sich unglaublich an. Im Sitzen zu trinken und zu urinieren. Den Wind in den Haaren und auf den Ohren zu spüren. Noch einmal würde ich eine Bettruhestudie nicht mitmachen.

      Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt. Wir kämpfen unser ganzes Leben gegen sie an. Wenn wir geboren werden, kostet es uns enorme Kraft, unseren Kopf aufzurichten. Die Schwerkraft zieht uns wie Blei nach unten, wir bekommen zuerst Kreuzschmerzen, dann beginnt unsere Haut zu fallen, und schließlich schaffen wir es nicht mehr, lange Strecken zu gehen. Am Ende siegt die Schwerkraft, wir liegen im Bett und ergeben uns. Über alles denken wir nach, nur den größten Feind des Menschen scheinen wir vollkommen ausgeblendet zu haben. Die Schwerkraft ist es, die uns umbringt.

      So muss sich Eva gefühlt haben. Sie war die erste Frau auf einem neuen Planeten. Vielleicht stimmt die Geschichte aus der Bibel, und Adam und Eva waren die ersten Siedler. Sie kamen von einem anderen Stern und sollten auf dem blauen Planeten eine neue Bevölkerung begründen. Die Bibel hat vielleicht nur etwas verkürzt, in Wirklichkeit war eine ganze Gruppe von Siedlern da. Wäre doch auch viel logischer. Nicht jeder kann von sich behaupten, er sei Eva. Ich könnte es von mir behaupten, aber erstens darf ich es niemandem sagen und zweitens interessiert es auch niemanden.

       Notiz 2

      Shannon Lucid war im ersten Astronautenteam der NASA, zu dem auch Frauen zugelassen wurden. Sie verbrachte insgesamt 188 Tage im All und hält damit den Rekord für Astronautinnen: Auf der russischen Raumstation MIR war sie mit zwei Männern, die beide Juri hießen. Juri und Juri mussten einen Außenbordeinsatz, einen sogenannten EVA machen. Shannon sollte alleine an Bord bleiben. Bevor die beiden Männer ins All ausstiegen, verdeckten sie mit einem roten Tuch alle Knöpfe im Kontrollzentrum, die Shannon Lucid absolut nicht berühren durfte, während sie draußen waren.

      3

      Der Flieger nach Moskau ist nicht voll, nur jeder zweite Sitzplatz ist besetzt. Die Frau am Gangplatz schaut dauernd zu mir her. Oder versucht sie aus dem Fenster zu schauen? Nein, ich habe mich nicht getäuscht. Sie fixiert mich und rückt einen Sitz näher. Ihre Lippen sind tiefrot gestrichen, ihr Lidschatten zu dunkel. Entschuldigung, sagt sie.

      Ich drehe mich zu ihr, ohne mein Buch abzulegen und schaue langsam auf. Ist die Strahlung am Fenster größer, was glauben Sie, fragt sie mit aufgerissenen Augen.

      Keine Ahnung, sage ich.

      Diese Maschine ist Nummer eins auf der Liste der Abstürze, sagt sie.

      Da kann ich Sie beruhigen, sage ich. Wenn Sie den Weg mit dem Auto zum Flughafen überlebt haben, haben Sie den gefährlichsten Teil der Strecke schon hinter sich. Das zeigen alle Statistiken.

      Ach, sagt sie, das ist gut, und lehnt sich zurück. Doch dann fährt sie noch einmal hoch und sagt: Gilt das auch für den Weg vom Flughafen nach Hause?

      Ich sehe sie an und sage nichts.

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      Am Flughafen steht ein Mann mit einem Schild, auf dem »Star City« und mein Name stehen. Sternenstädtchen. Ich folge ihm, ich bin allein. Ich hatte gehofft, diesmal jemanden kennenzulernen. Der Fahrer legt mein Gepäck in den Kofferraum. Er deutet es zumindest an. Er lässt mich den Koffer hochheben und hineinlegen, synchronisiert seine Bewegungen mit meinen, greift jedoch erst zu, als der Koffer nur noch hineingeschoben werden muss. Alter Taxifahrer-Trick, der funktioniert wohl überall, denke ich. Ich setze mich ins Auto, er kratzt das Eis weg, das sich in der kurzen Wartezeit auf der Windschutzscheibe gebildet hat. Dann fahren wir los. Er lächelt nicht, er spricht nicht. Wir verlassen die Stadt, nach rund 50 Kilometern fahren wir durch einen Wald, und plötzlich steht vor uns ein großes Tor. Wir sind da. Das Juri-Gagarin-Kosmonauten-Trainingszentrum. Der Fahrer zeigt einen Brief, die Soldaten beraten, bringen den Brief zurück und machen das Tor auf. Der Taxifahrer fährt langsam durch die Allee, biegt bei einem der Blocks ein und bleibt vor der Tür stehen. Er zeigt mit dem Finger zum Eingang, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ich steige aus und nehme meinen Koffer. Der Taxifahrer fährt weg.

      Das ist also Star City. Das sagenumwobene Trainingszentrum. Und ich bin hier.

      Challo,

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