Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt. Ulrike Schmitzer
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Ich bekomme einen Taucheranzug und muss mit einem Tauchoffizier drei Stunden Übungen im Trockenen machen, bevor er mich ins Wasser lässt. Ich soll eine Luftschleuse in die Internationale Raumstation ISS einbauen, in das 1:1-Modell unter Wasser. Das ist ziemlich absurd. Ich werde nie auf der ISS sein. Aber da alle Trainer mit einem derartigen Ernst bei der Sache sind, versuche ich, mein Bestes zu geben. Es sieht ganz einfach aus, unter Wasser dauert die Prozedur allerdings dreimal so lange wie beim Trockentraining. Der Tauchoffizier ist zufrieden mit mir, er klopft mir auf die Schulter, als ich aus dem Wasser steige. Ich lächle ihn an, er lächelt nicht zurück.
Die denken wohl, alle Frauen sind von Natur aus ungeschickt oder dumm. Das haben wir der Astronautin Heidemarie Stefanyshyn-Piper zu verdanken.
Notiz 3
Als Heidemarie Stefanyshyn-Piper ihren ersten Weltraumspaziergang auf der Internationalen Raumstation ISS machte, führte sie acht Stunden lang fehlerfrei Wartungsarbeiten durch, und dann verlor sie ihre Werkzeugtasche im All. Frauen und ihre Taschen, das war die Nachricht der Woche.
Als ich aus der Umkleide komme, sehe ich durch die Glasscheibe den jungen Mann, wie er gerade ins Wasser steigt, um ein paar Runden zu schwimmen. Der offizielle Teil dürfte für heute wohl abgeschlossen sein. Er taucht auf, atmet ein, taucht mit kräftigen Schwimmbewegungen wieder ab. Ich sehe mich um, niemand beobachtet mich. Ich öffne die Tür zur Männergarderobe, auf dem Schild steht etwas, das ich nicht verstehe. Das ist zumindest eine mögliche Ausrede, denke ich, und zugleich weiß ich, dass mir das niemand abkaufen wird. Ich muss die Liste haben. Der Umkleideraum ist leer. Ich muss weiter, in den zweiten Raum. Mein Herz pocht so laut in den Ohren, dass ich nicht hören könnte, wenn jemand zur Tür hereinkommt. Die Uniform liegt auf der Bank. Ich durchsuche sie, das Papier knistert. Ich entfalte das Papier. Alles auf Russisch. Was sonst. Und doch bin ich kurz geschockt. Ich kann das Alphabet, ein paar Wörter, gerade genug, um in der U-Bahn die Stationsnamen schnell genug lesen zu können, bevor sie weiterfährt. Und ich weiß, wie man »Wien« schreibt. Ich suche die Liste ab. Ich sehe russische Städte, japanische, arabische, und da: Wien. Hier steht Wien auf Russisch. BéНa. Mein Name und ein Name direkt daneben. Ich lese wie ein Volksschüler, einen Buchstaben nach dem anderen: Zoe Hauser.
Ich möchte die Liste am liebsten einstecken. Es sind 50 Namen. Ich habe noch nicht einmal das erste Drittel überflogen, als eine Tür zufällt. Es ist die äußere Garderobentür. Zwei Russen reden miteinander. Der eine lacht. Ich lege mich unter die Bank, ein witzloses Versteck, denn die Bank besteht aus Sprossen mit breiten Abständen. Ein Blick, und sie sehen mich. Aber es gibt kein besseres Versteck. Es ist dumm, sich zu verstecken, denke ich, damit ist die Ausrede hinfällig, dass ich mich in der Tür geirrt habe. Ich krieche wieder unter der Bank hervor. Die Männer bleiben im ersten Raum, die Tür fällt wieder zu. Ich stecke die Liste zurück in die Uniform und schleiche mich hinaus. Ich habe einen Namen. Das verschafft mir ein Hochgefühl. Ich bin nicht mehr allein.
Der dritte Tag. Oberst Irina klopft ein zweites Mal. Ich bin zu spät. Ein geringschätziger Blick erstickt mein Guten Morgen.
Cheute letzter Tag, sagt sie mit russischem Akzent. In Simulationsanlage.
Ich steige in das nachgebaute Raumschiff und warte. Ich muss das Raumschiff landen. Das liebe ich. Schon als Kind spielte ich im Urlaub in den Spielsalons an der Strandmeile mit Computersimulationen. Wo ist die Kanone, dachte ich. Erhöhte Aggressionsbereitschaft wäre sicher ein Grund, mich aus dem Programm auszuschließen. Ich hätte sie alle abgeknallt. Rundherum. Mit dem größten Vergnügen. Cheute letzter Tag, wiederhole ich wie einen Rap, während ich die Kiste in der vorgeschriebenen Zeit lande. In diesen Dingen bin ich wirklich talentiert. Sie sollten mich als Pilotin einsetzen.
Derselbe Taxifahrer steht vor der Tür. Noch einmal mache ich den Trick mit dem Koffer nicht mit. Ich lasse den Koffer an der Treppe stehen, er steigt seufzend aus und hievt ihn in den Kofferraum. Der Rückflug geht schnell. Ich kann es kaum erwarten, zu einem Internetanschluss zu kommen, um sie ausfindig zu machen.
4
Man sollte sie nicht unterschätzen. In Wien gibt es 12 Zoe Hauser. Vielleicht war es ein Umlaut. Und es gibt 9 Zoe Häuser. Das sind zu wenige, um die Hoffnung aufzugeben, und zu viele, um an sie heranzukommen. Was weiß ich über sie? Sie muss jung sein. Sie hat vermutlich keine Kinder. Ich glaube nicht, dass sie Frauen mit Kindern auswählen. Sie müsste ihre Kinder zurücklassen. Andererseits werden sie gebärfähige Frauen brauchen. Und was ist ein besserer Beweis für die Gebärfähigkeit, als Kinder zu haben? Ich drucke die Liste mit den Adressen aus und stecke sie ein.
Meine langen Abwesenheiten von der Arbeit sind immer schwieriger zu erklären. Zuerst haben sie mir Bescheinigungen vom Gericht ausgestellt, dass ich als Geschworene bereitzustehen habe. Ich darf nicht darüber sprechen, das hat jeder der Kollegen sofort akzeptiert. Wenn die dich mal in den Fängen haben, kommst du nicht mehr raus, sagten sie und meinten die Justiz. Schöffe, Geschworener. Das glaubt mir doch inzwischen keiner mehr, sagte ich nach zwei Jahren zu ihm, und er reagierte. Krankenstände, Arztbestätigungen. Meine Arbeit blieb liegen. Keine Laborarbeit, keine Studien, keine Publikationen.
Sie wollten mir die Leitung der Studie entziehen, die ich auf die Beine gestellt hatte.
Das ist mein Forschungsbereich, sagte ich zum Professor. Meine Expertise. Das Thema gibt es überhaupt nur, weil ich an der Uni bin. Ohne meine Initiative gäbe es keine Förderungen, sagte ich ihm.
Sie können weiter mitarbeiten, sagte der Professor. Ich werde den Kollegen Harreiter damit betrauen.
Harreiter, sagte ich, den habe ich ausgebildet. Der ist noch lange nicht so weit.
Das entscheide ich, sagte der Professor.
Mein Sessel war noch da, als ich an einem Sonntag in die Uni kam, aber Harreiter hatte demonstrativ sein Familienfoto auf meinen Schreibtisch gestellt. Ich ließ es in den Mistkübel fallen, es zerbrach. Meine Unterlagen holte ich aus einer Kiste, die in der Ecke stand.
Die Kollegen ignorierten mich. Wenn die Aufgaben für neue Studien verteilt wurden, hieß es nur, wer weiß, ob du dann überhaupt da bist. Ich konnte nicht einmal widersprechen, ich wusste es selbst nicht. Ich wurde nicht mehr auf Firmenfeiern eingeladen und nicht mehr gefragt, ob ich in die Kantine mitgehe. Wenn ich ein paar Tage nicht mehr in der Arbeit erschien, fragte niemand mehr, was ich gemacht habe. Ich war bald die Unsichtbare.
Nach der Arbeit fahre ich mit der Straßenbahn in die Lerchenfelder Straße. Entlang der Straße ist eine Allee, Sitzbänke überall zwischen den Baumreihen. Autos gibt es hier in der Innenstadt schon lange keine mehr. Die Mietpreise sind unerschwinglich. Aber wer sagt, dass sie nur arme Leute ausgesucht haben. Ich setze mich auf die Bank schräg vor dem Haus und warte. Ein paar Leute gehen aus und ein. Ich werde sie nicht erkennen. Ich gehe zur Tür, suche das Türschild. »Hauser« steht da. Die Haustür ist offen, ich gehe hinein bis an die Wohnungstüre und läute.
Aus der Wohnung höre ich Schritte näherkommen. Schlurfen. Kein gutes Zeichen, denke ich. Langsames Hantieren an den Schlüsseln.