Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt. Ulrike Schmitzer
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Challo, sagt sie und reicht mir die Hand. Willkommen in Swjosdny Gorodok. Ich bin Oberst Irina. Ich freue mich, dass Ihre Reise gut verlaufen ist.
Danke, sage ich. Ich freue mich, hier zu sein.
Hier werden Sie wohnen, sagt sie und winkt, dass ich ihr folgen soll.
Star City war lange eine geschlossene Stadt, heute leben und arbeiten rund 6.300 Menschen hier.
Sie wohnen im selben Haus wie Dennis Tito, der erste Tourist in der Geschichte der Raumfahrt. Ihr Training beginnt morgen. Wir dürfen keine Zeit verlieren, Ihr Aufenthalt ist sehr kurz.
Sind noch andere da, frage ich und weiß in dem Moment, dass es falsch war, das zu fragen.
Oberst Irina sieht mich scharf an und sagt, oberste Geheimhaltungsstufe. Sie wissen! Und schüttelt den Kopf.
Ich hole Sie morgen ab, 0600, sagt sie und geht. Mein Zimmer ist einfach, aber sehr sauber. Ich ziehe mich aus und lege mich ohne zu duschen sofort ins Bett. Ich drehe mich hin und her, sie haben mir nicht gesagt, was auf mich zukommt.
Als Oberst Irina an meiner Zimmertür klopft, sitze ich schon an dem kleinen Tisch und warte, bis sie kommt. Das war schon als Kind so. Immer wenn ich Angst vor dem nächsten Tag hatte, konnte und wollte ich nicht schlafen. Im Schlaf vergeht die Zeit so schnell, und ich wollte den Moment des Schreckens weit, ganz weit hinauszögern. Deshalb sitze ich schon seit vier Uhr im Finsteren an diesem Tisch.
Oberst Irina nickt zufrieden, Lächeln entkommt ihr keines. Ich folge ihr still. Wir verlassen das Gebäude und gehen ein Stück durch Star City in einen anderen Block. Oberst Irina öffnet Türen und wandert durch Gänge, ich bin mit zwei, drei Metern Abstand hinter ihr. Wir stehen vor einer riesigen Halle und schauen durch ein Fenster hinein.
Das ist die größte Zentrifuge der Welt, sagt Oberst Irina. Hier müssen alle Kosmonauten durch. Wenn es gesundheitliche Probleme gibt, werden sie hier aufgedeckt. Sie haben einen Termin um 1100. Bis dahin wird sie Doktor Morokov untersuchen und für die Zentrifuge vorbereiten.
Elf Uhr. Ich trage einen Kosmonautenanzug, meine Haare sind streng zusammengebunden. Unter dem Anzug bin ich an Dutzende Messgeräte angeschlossen, ich kann mich nicht bewegen, die Gurte sind fest angezogen. Die ersten Umdrehungen spüre ich ganz leicht, doch dann beginnt meine Haut aus dem Gesicht zu fliegen, meine Gedärme wandern aus meinem Körper und mein Herz setzt aus. Ich denke an ein Karussell auf dem Spielplatz bei meiner Großmutter. An das Gefühl, dass meine Beine abheben und die Büsche rundherum zu fliegen beginnen. Ich kreischte damals, bis mir die Kraft ausging. Doch das Karussell hielt nicht an, es drehte sich immer schneller und schneller. Meine Hand begann sich von der rostigen Stange zu lösen. Ich flog in hohem Bogen auf den Schotter und holte mir blutende Wunden. Wow, sagte ich damals und wollte es gleich noch einmal versuchen. Aber ich musste genäht werden, und dann waren die Ferientage bei meiner Großmutter vorbei. Nur nach innen schauen, sage ich mir. Bald ist es vorbei. Das haben schon 300 Kosmonauten vor dir ausgehalten. 300 hat Oberst Irina gesagt. 300 sind eigentlich nicht sehr viel. Zählen Sie, befiehlt mir eine Stimme. 300, 301, 302, 303 … meine Zunge ist ganz dick, es fällt mir schwer, deutlich zu sprechen, ich bekomme keine Luft. Wie lange das wohl dauert. Lösen Sie die Aufgaben, befiehlt die Stimme. Ich drücke die Tasten, die auf dem Monitor vor mir aufscheinen. Ich spüre meine Zähne, vielleicht fallen sie aus dem Gebiss, meine Augäpfel wollen aus den Augenhöhlen springen, wieso ist mitten in der Zentrifuge ein Strand, ein wunderschöner Sandstrand, ich atme auf, die Luft ist heiß und feucht, das kann nicht sein, nein, bleib doch, er verschwindet wieder, ganz langsam, meine Zähne kommen wieder zurück, meine Haut entspannt sich, die Zentrifuge wird langsamer. Ich versuche aufzustehen, ein Techniker sagt, ich soll noch sitzen bleiben, sie müssen mich erst abkabeln. Ein Mann bringt mich auf mein Zimmer. Ich schlafe erschöpft ein.
Oberst Irina holt mich ab. Wir müssen ein Stück durch Star City gehen.
Ein weißer Wagen fährt an uns vorbei, bremst, bleibt ein paar Meter vor uns stehen. Oberst Irina deutet mir, hier zu warten.
Sie läuft zum Auto, aus dessen Fenster ein winkender Arm hängt. Wie ein Winkerkrebs, denke ich.
Oberst Irina flirtet. Sie lacht und verbiegt ihren festen Soldatenkörper. Der Fahrer startet los, bleibt noch einmal stehen und fährt dann weiter.
Das war der erste Kommandant der Internationalen Raumstation, sagt sie und lächelt noch immer. Bill.
Wir gehen beim Juri-Gagarin-Denkmal vorbei. In Schrittstellung und in Arbeiterkluft steht er hier in Bronze gegossen. Ich wundere mich, dass er nicht im Kosmonautenanzug abgebildet wurde.
Wenn die Crew ins All fliegt, sagt Oberst Irina, dann legt sie Blumen zum Monument von Juri Gagarin und trägt sich in das Memorial Book ein.
Wenn die Kosmonauten zu spät zum Training kommen, sagt sie, müssen sie die ganzen 15 Kilometer rund um die Sternenstadt laufen.
Oberst Irina gibt sich Mühe, eine gute Fremdenführerin zu sein. Das Sternenstädtchen ist zu einem Dienstleistungszentrum geworden für die Raumfahrt. Es ist nur eine Frage des Preises, ob man hier trainieren und Tests machen kann. Doch die Sowjetzeiten sind noch in ihren Körper eingeschrieben. Der militärische Habitus und der Befehlston in ihrer Stimme tun sich noch schwer mit ihrer serviceorientierten Freundlichkeit.
Werde ich das Ergebnis des Zentrifugen-Tests erfahren, frage ich.
Ich bin nicht befugt, Ihnen das mitzuteilen, sagt Oberst Irina und beschleunigt ihren Schritt.
Wir gehen bei der Betriebskantine vorbei. Der Duft von Essen kriecht in meine Nase, mein Magen beginnt zu knurren. Sie führt mich in einen kleinen Gastraum, auf dem Tisch steht ein Teller mit dampfendem Essen.
In einer Stunde hole ich Sie wieder ab, sagt sie.
Nach zehn Minuten bin ich mit dem Essen fertig. Ich könnte noch einen Spaziergang machen, denke ich und will die Tür öffnen. Ich bin eingesperrt. Die Tür hat kein Schloss, sie muss automatisch versperrt worden sein. Jetzt erst bemerke ich, dass der Raum keine Fenster hat. Vielleicht ist das ja auch ein Test. Ich setze mich wieder und versuche ruhig zu bleiben. Was kann ich schon tun. Ich muss eine Dreiviertelstunde warten, dann wird sie mich holen. Ich lege mein Ohr an die Tür, kein einziges Geräusch ist zu hören.
Als Oberst Irina die Tür öffnet, sitze ich mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden und schlafe.
So, sagt sie nur. Ich springe auf.
Jetzt Belastungstests und morgen Tauchgang, sagt sie.
Die Belastungstests kenne ich schon, es sind dieselben wie zu Hause. Der erste von drei Tagen ist vorbei.
Als Oberst Irina am nächsten Tag um 6 Uhr in der Früh klopft, öffne ich ihr die Tür. Ich sage Guten Morgen.
Guten Morgen, erwidert sie. Heute Tauchgang.
Wir gehen wieder durch das Sternenstädtchen. Oberst Irina ist schweigsam. Sie bleibt vor einem Gebäude stehen und sagt, ich soll hineingehen. Sie muss weiter. Heute viel Ärger, sagt sie und erschrickt über ihre Offenheit.
Alles Gute, sage ich und gehe in das Haus.
Ein