Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
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Читать онлайн книгу Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel страница 5
„Nur ist die vielleicht zehnmal so groß, mit einem Café drin und einem Restaurant und Umkleidekabinen und so. Aber verdammt teuer der Eintritt. Da müssen wir unbedingt auch mal irgendwie rein“, sagte Ludwig, „schon wegen der halbnackten Weiber, die es dort hat.“
Das hätte er nämlich genau gehört, neulich, in der Reparaturwerkstatt, als der Autoschlosser seinem Vater, dem Chauffeur Herkommer, von der Badeanstalt erzählt hat.
„Wie sollen wir da reinkommen, du kannst ja nicht richtig schwimmen!“
Die Bemerkung verdross Ludwig, Schwimmen war das einzige, worin ihn Viktor übertraf. Und nur schwimmend konnte man heimlich in die Badeanstalt gelangen, da hatte Viktor schon recht, denn an der Kasse gab es kein Vorbeikommen. Unter den Treibgutabweisern, die noch außerhalb lagen, musste man sogar drunter durchtauchen und gleich nach dem Auftauchen einen der Zwischenräume zwischen den mächtigen schwarzen Pontons treffen, die die Badeanstalt trugen. Viel Zeit blieb einem dazu nicht, die Strömung war gewaltig, anhalten oder umkehren gab es nicht. Zwischen den Pontons dann, die gerade genügend Platz ließen für einen Schwimmer dazwischen, wurde es finster und unheimlich, und die rauschende Strömung wurde noch reißender und gurgelte an den Kanten der Pontons. Bevor es dann wieder ins Helle ging, war es gut, wenn es gelang, sich an einem der stählernen Querträger über dem Kopf festzuhalten; dann konnte man, bevor man ins offene Becken hinausschwamm, erst Ausschau halten, ob der Bademeister in der Nähe war. War die Luft rein, ließ man sich los und durchschwamm das Becken mit der Strömung bis zum Ende und wurde auf der Holztreppe dort, die über die ganze Breite des Beckens ging, in Rückenlage und mit den Füßen voraus von der Strömung noch ein paar Stufen hinaufgetragen. Damit war man zu einem ganz normalen Badegast geworden.
Aus der Badeanstalt wieder herauszukommen, war fast noch schwieriger. Sich ohne Kleider, nur in der Badehose, an der Kasse vorbeizuschleichen, war viel zu auffällig und gefährlich. Man musste sich, und zwar schon ziemlich am Anfang des Beckens, das ja eigentlich gar kein richtiges geschlossenes Becken war, am Rand an der seitlichen Haltestange festklammern, die knapp über dem Wasserspiegel verlief, diese an der richtigen Stelle untertauchen und sich dann zwischen zwei hintereinanderliegenden Pontons, die dort eine kleine Lücke ließen, hindurchhangeln, was nicht einfach war, denn wenn die Hände den festen Griff an den Trägern verloren, konnte man unter den Ponton gedrückt werden – so seien schon welche ertrunken, hieß es. Danach war man wieder in einem schmalen, dunklen Kanal zwischen zwei Pontonreihen und schoss an dessen Ende mit beträchtlichem Tempo wieder hinaus in den offenen Fluss.
Beide waren sie sich sicher, irgendwann würden sie es versuchen. Bei den Großen in der siebten oder achten Klasse seien neulich vervielfältigte Blätter konfisziert worden, in denen, sogar mit Skizzen, genau beschrieben war, welchen Weg man schwimmen musste und wo man sich festhalten konnte, um abzuwarten oder um sich zur Seite zu hangeln. Da müsste man doch drankommen, meinte Ludwig.
„Wenn die vom Rektor eingezogen worden sind?“, zweifelte Viktor.
„Ach was, die erwischen nie alle Zettel! Wenn da wirklich welche eingezogen worden sind, gibt’s unter Garantie irgendwo noch mehr davon. Lass mich mal machen!“
„Lern lieber erst mal anständig schwimmen! Eigentlich ist auch das Rudern viel zu gefährlich für dich. Jetzt lass endlich mich mal ran!“
Ludwig dachte nicht daran. Als er schließlich dann doch Viktor nach vorn auf die Bank ließ, hatten sie höchstens noch zehn Minuten. Viktor wollte die Zeit nutzen und zog gleich kraftvoll durch, aber durch eine Ungeschicklichkeit – es mochte auch ein Schwanken des Bootes gewesen sein – tauchte das Ruderblatt nicht recht ein und beförderte eine kräftige Ladung Wasser genau auf Ludwig, der im Heck saß. Viktor erschrak und blickte ängstlich und entschuldigend zu Ludwig hin, aber der atmete nur wie erschöpft aus, bewegungslos und ohne eine Miene zu verziehen und mit einem Blick, als wollte er sagen ‚Ich habe es ja gleich gewusst, nicht einmal rudern kann er‘.
Viktor gestand sich ein, Ludwig konnte tatsächlich besser rudern als er, wenn er auch nicht so gut schwimmen konnte, und im Radfahren war Ludwig auch geschickter. Damals hatte die Köchin Viktor ihr Rad gegeben, ein Damenrad, mit dem er unter der sachten Mithilfe des Zimmermädchens schließlich ganz gut zurechtgekommen war, obwohl er in den Pedalen hatte stehen müssen, weil der Sattel viel zu hoch für ihn war.
Ludwig aber, kleiner als er, hatte damals das Herrenrad seines Vaters genommen, aber Viktor hatte sogleich gesehen, dass Ludwig, auch wenn er sich nicht auf den Sattel setzen würde, wegen des Oberrohrs unmöglich bis zu den Pedalen reichen würde. Doch Ludwig, was tat der? Er setzte seinen rechten Fuß auf das rechte Pedal, stieß sich mit dem linken zwei, drei Mal ab, wie das auch die Erwachsenen manchmal beim Aufsteigen tun, und streckte dann das linke Bein unter dem Oberrohr durch den Rahmen hindurch, um mit dem Fuß das Pedal auf der linken Seite zu erreichen. Das ergab freilich eine äußerst verquere Haltung, denn er saß – oder besser, er stand – nicht über dem Fahrrad, sondern er hing seitlich daneben, aber er fuhr, wenngleich es ein fast schon artistisches Geschick erforderte, so die Balance zu halten. –
Nach dem Rudern hatten sie noch Zeit. Sie setzten sich ins Gras und überlegten, was man noch unternehmen könnte. Plötzlich stand Ludwig auf: „Wir gehen vor zur Eisenbahnbrücke; viel zu gefährlich, oben drüberzugehen, aber da weiß ich was.“
Ohne Viktors Antwort abzuwarten, stürmte er los. Wie er auf einmal geschwind draufloslaufen kann, dachte Viktor und eilte hinterher. Ludwig ging unten auf der Uferwiese, nah am Wasser, bis er unter der Brücke stand, und blickte nach oben.
„Siehst du den Spalt?“, rief er Viktor zu, „da schlüpfen wir rein.“ Sie stiegen die Böschung hoch, aber je weiter sie nach oben kamen, umso mehr Abfall lag herum und umso ekelhafter stank es, und Viktor wollte umkehren.
„Du bleibst da!“
An der Unterseite des mächtigen Längsträgers, genau über ihnen, sah man tatsächlich einen Spalt, der bis ans jenseitige Ende der Brücke ging. „Der ist breit genug, da kann man reinkriechen. Das sind nämlich zwei riesige Doppel-T-Träger“, machte sich Ludwig wichtig, wer weiß, wo er das herhatte, aber es stimmte, „die ziemlich nah nebeneinanderliegen, aber noch Luft haben. Drinnen kann man stehen, den einen Fuß auf dem linken Träger, den anderen auf dem rechten, und in der Mitte, musst du dir vorstellen, genau unter dir, der Spalt. So kann man dann auch vorwärtsgehen, ein bisschen breitbeinig, klar, aber so kommen wir bis zur anderen Seite rüber! Man muss halt gut schwindelfrei sein, aber passieren kann nichts.“
Ludwig stotterte vor atemloser Begeisterung.
Sie kletterten die Böschung noch ein Stück weiter hinauf, bis sie nur noch geduckt unter der Brücke kauern konnten. Der Spalt war immerhin knappe zwei Handspannen breit – das sollte reichen! –, allerdings war er auf die ersten Meter mit ein paar schlampig angeschweißten Flacheisen versperrt worden; aber das fand Ludwig gerade gut, weil man sich an ihnen wie an Quersprossen bequem vorhangeln könnte und dann genügend Platz hätte, um tüchtig Schwung zu holen, wie ein Turner am Reck, was er auch sogleich tat, und – schwuppdiwupp! – schon war er mit den Beinen voraus in der Brücke verschwunden.
Viktor musste drei Mal ansetzen, – „Du musst den Kopf in den Nacken werfen, wenn du die Beine hochschwingst!“, rief Ludwig – dann gelang ihm der Aufschwung endlich. Ludwig war bis über die Quersprossen zurückgetreten, sodass Viktor nun vor ihm stand und vorangehen musste. Schon nach wenigen Schritten fühlte Viktor, wie sehr ihm der Rückweg abgeschnitten war. Er ging vorsichtig, in langsamen und kurzen Schritten, und spürte, wie Ludwig ungestüm nachdrängte. Selbst wenn man stolpern und hinfallen würde, beruhigte er sich, konnte man eigentlich nicht durchfallen, man musste sich nur immer so breit wie möglich machen.