Der sanfte Wille. Georg Kühlewind

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Der sanfte Wille - Georg Kühlewind

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dritte sein wird und was für eine grammatische Form die entsprechende ist?

      Auch kann man gegebenenfalls entscheiden, in welcher Sprache das ausgedrückt werden soll. Nicht selten sind wir mit dem Ausdruck unzufrieden – was vergleichen wir dann mit dem Ausdruck? Wenn wir dieser Frage nachgehen, wird offensichtlich, dass der Sinn oder die Bedeutung des Satzes schon da sein muss, bevor ich die Sprache, die Worte, das heißt die Zeichen für die Bedeutung, wählen kann. Es ist auch bekannt, dass das Verstehen eines Textes über das Verstehen der Wörter hinausgeht; es kann vorkommen, dass wir alle Wörter eines Satzes verstehen, den Satz aber nicht, oder umgekehrt, wir verstehen einige Wörter im Satz nicht, und doch ist dieser verständlich und beleuchtet die nicht verstandenen Wörter – im Umgang mit Fremdsprachen passiert das oft. Der Sinn oder die Bedeutung ist wortlos, übersprachlich vor dem Erscheinen der Zeichenform da, und beim Verstehen gelangt der Verstehende wieder zur geistigen Form der Bedeutung. Auch wenn wir ein Wort übersetzen – oder in derselben Sprache durch ein anderes ersetzen –, ist klar, dass wir die Bedeutung vom Zeichen, von der Lautfigur trennen können, dass die Bedeutung unabhängig von der sinneswahrnehmbaren Erscheinung existiert. Die nächste Stufe der Reinigung des Denkens wäre ein – kontinuierliches – Denken ohne Worte. Das und noch mehr geschieht in Augenblicken der Geistesgegenwart: Als ob das Denken mit unendlicher Geschwindigkeit verliefe, nicht Schritt um Schritt in der Zeit. Kontinuierlich und absichtlich ohne Worte zu denken ist den meisten Erwachsenen unserer Zeit ohne vorangehende Übung versagt. Übungen aber können dazu führen.

      Besinnung/Meditation 9: Die Wörter kommen aus dem Wortlosen.

      Hinter den Wörtern stehen Begrifflichkeiten, das heißt, ein Wort ist ein Zeichen für ein Verständnis, für ein Begreifen. Man kann auch Wörter benutzen, ohne sie wirklich, vollständig dem Wesen nach zu verstehen – und das geschieht nicht selten –, aber auch in dem Fall versteht man unter einem Wort etwas. Wenn wir solches Gefasel ausklammern, heißt in Worten zu denken in Begriffen zu denken. Die Begrifflichkeit der in der Sprache gegebenen Wörter – sofern sie nicht technisch-wissenschaftlich verwendet werden – ist keineswegs eindeutig, sie können sehr flexibel gebraucht werden, auch zur Bezeichnung neu entstandener Begriffe.4 Der Mensch kann neue Begriffe finden und sie mit alten Wörter benennen. Das zeigt auch, dass Begriffe ohne Zeichen existieren können. Die ersten Begriffe werden dem Kleinkind durch die Muttersprache gegeben. Später löst sich das Denken von der Sprache los und kann dann zu neuen Begriffen gelangen. Aus alldem geht hervor, dass der Mensch wortlos, aber immerhin in Begriffen denken kann. Meistens denken wir – ob wortlos, ob nicht – in schon fertigen, hergebrachten, nicht neuen Begriffen. Daher wäre der nächste Schritt in der Reinigung des Denkens das nicht-begriffliche Denken.

      Der Erwachsene hat einen Begriffsschatz, dessen größter Teil überliefert, sprachgegeben ist. Diese Begriffe mussten ebenso im Laufe des Lebens erworben, das heißt verstanden werden, wie die – zumeist nicht zahlreichen – selbst gefundenen Begriffe. Das Begreifen, die Bildung der Begriffe geschieht durch ein begriffsbildendes Denken, das nicht begrifflich verläuft. Im Kleinkindalter dominiert dieses Denken, damit begreift das Kind die dargebotenen Begriffe, indem das Verstehen, selbst kontinuierlicher Natur, zum Halt kommt. Wo der Vorgang zu einem (provisorischen) Stillstand kommt, entsteht ein Begriff, ein Verständnis. Bei dem Erwachsenen findet dieser Prozess durch hergebrachte Begriffe statt, zwischen welchen an einer Stelle – oder an mehreren Stellen – eine Lücke ist: Dort geschieht ein neues Verstehen, und es bildet sich ein neuer Begriff.

      Ein Beispiel von Begriffsbildung: Wir zeigen einem Kind (dreibis fünfjährig) kreisförmige, dreieckige, viereckige Gegenstände und auch andere, die keine bekannte, benannte Form haben, von verschiedener Größe, Stofflichkeit und Farbe. Solange das Kind die Begrifflichkeiten von Kreis, Dreieck, Viereck beziehungsweise die Farbbegriffe nicht gebildet hat, kann es die Gegenstände nicht nach Form oder Farbe sortieren. Die Begriffsbildung geschieht durch selektierende Aufmerksamkeit: Um den Begriff «Kreis» zu erfassen, muss man von allen anderen Eigenschaften des Dinges (Größe, Stofflichkeit, Gewicht, Farbe usw.) absehen und die Aufmerksamkeit nur auf das, nämlich auf die Form lenken. Ebenso, nämlich durch Einschränken der Aufmerksamkeit, geht die Begriffsbildung im Hinblick auf die Farbe vor sich: Nie tritt eine Farbe allein auf.

      Begriffsbildung ist immer Einengung des Aufmerksamkeitsstrahls. Die Geschichte der Wörter in jeglicher Sprache zeigt, dass die Wörter früher umfangreichere Begriffe bezeichneten, und zwar ist der Begriff umso größer, je weiter wir bei der Untersuchung in die Vergangenheit zurückgehen.5

       Besinnung 10: Ist das Schrumpfen der Begriffe irreversibel? Können die Begriffe auch inhaltlich wachsen?

      Es wurde hier von einer Änderung im Begriffsleben gesprochen, nicht von der historisch viel leichter verfolgbaren Veränderung in der Bedeutung der Wörter, welche nur teilweise mit dem Schrumpfen und zugleich Schärferwerden der Begriffe identisch ist.6

      Wir betrachten das Phänomen des Verstehens noch einmal. Es hat zwei auffällige Züge: Es geschieht blitzschnell, und es kann nicht wiederholt werden, das heißt, wir können nicht dasselbe zweimal verstehen – entweder muss das erste Verstehen in Vergessenheit geraten, oder wir verstehen beim zweiten Mal etwas Neues oder Anderes. Die Schnelligkeit beruht auf der Unmittelbarkeit und Unvermitteltheit – das Verstehen kann lange vorbereitet werden, es kann auch schrittweise geschehen, aber der Akt ist – bei jedem Schritt – letztlich augenblicklich, wie ein Finden. Man kann lange suchen, nicht aber lange finden. Das Verstehen ist unanalysierbar, da es jeglichem Analysieren zugrunde liegt, auch jeglichem Denken. Das eigentliche, reinste Denken ist das Verstehen. Gewöhnlich kurz – auch das bewirkt, dass wir nicht kontinuierlich denken –, begleitet von einem nicht alltäglichen Gefühl, etwa des Glücks oder der Befriedigung: ein sprungartiges Geschehen.

      Besinnung / Meditation 11: Im Verstehen berühren wir unseren Himmel.

      Was beim Verstehen – außer der Vorahnung, dem Vorgefühl – bewusst wird, ist das Ergebnis, das Verstandene. Ganz bewusst wird es durch den Wortausdruck, und dieser kommt manchmal gar nicht schnell zustande. Es braucht mehr oder weniger Zeit, bis aus dem Blitz das Verstandene hervorgeht, dann ist es schon Vergangenheit. Offensichtlich spielt sich das Verstehen in der Gegenwärtigkeit ab. «Gegenwärtig» bedeutet zweierlei: einerseits, dass das Verstehen weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft geschieht, andererseits, dass wir im Akt gegenwärtig sind. Das wissen wir dadurch, dass es eine wenn auch noch so flüchtige Erfahrung ist, von der wir im Nachhinein, ohne darüber nachzudenken, wissen, es ist unsere Erfahrung. Es kann ein feiner Unterschied wahrgenommen werden zwischen der Erfahrung eines Verstehens und beispielsweise der Erfahrung einer Information, bei der kein erstes, intuitives Verstehen stattfindet, wie: «Morgen wird es wahrscheinlich regnen.»

      Besinnung 12: Versuchen wir, den zuletzt genannten Unterschied zu beschreiben.

      Dass wir die Gegenwart als solche nicht erfahren, hat mit beiden genannten Zügen des Verstehens zu tun: dass es blitzartig vorbei ist und dass wir in dem Blitz drinnen sind, identisch mit ihm, während unsere gewöhnlichen Erfahrungen sich immer dualistisch, im Intervall Subjekt-Objekt abspielen – wenigstens scheint es so. Es könnte auch sein, dass wir für einen gleich kurzen Augenblick wie beim Verstehen auch in jeder Erfahrung mit dem, was ein wenig später das Erfahrene wird, identisch sind. Über diese Frage aber kann nur der Versuch, die eventuelle Erfahrung der Identität und der Gegenwärtigkeit entscheiden. Die Zielsetzung ist ja, vom Gedanken zum Denken zu gelangen oder von der Vorstellung zum Vorstellen. Es ist ersichtlich, dass das reinste Denken das Verstehen ist. Das können wir aber mit unserem gewöhnlichen Willen nicht wollen, wir müssen es geschehen lassen, einfallen lassen – wie machen wir das? Das Ziel wäre, den Augenblick der Geistesgegenwärtigkeit oder des Verstehens zu «verlängern» und dabei die Erfahrung zu haben – nicht nachträglich.

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