Der sanfte Wille. Georg Kühlewind

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Der sanfte Wille - Georg Kühlewind

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Palette der Gefühle nicht eines dazu erwählen, dass es das Bewusstsein erfülle, wie es in der Konzentrationsübung mit einem Bild oder Gedanken geschieht. Wenn wir etwas fühlen, so lösen fast immer äußere Anlässe, auch Vorstellungen oder körperliche Vorgänge, das Fühlen aus. Wir können im Fühlen kein Neues erzeugen, während dies auf dem Gebiet des Denkens möglich ist.

      Das Ziel der Übungen im Fühlen ist, ein erkennendes Fühlen zu entwickeln. Gewöhnlich verstehen wir unter «Fühlen» Emotionen, nicht-erkennende Gefühlswallungen, wie Ärger, Neid, Eifersucht, Depression und Ähnliches, die uns überwältigen. Das heißt, wir können ihre Erscheinung zum Teil in unserem Verhalten regeln, nicht aber über ihre An- oder Abwesenheit bestimmen. Nur am Rande des Gefühlslebens tauchen erkennende Gefühle auf, in Bezug auf künstlerische Erlebnisse oder im günstigen Falle im Beruf, etwa bei Therapeuten oder Pädagogen.

      Wir haben hinter dem Denken als orientierende Kraft das Fühlen der Logizität entdeckt. Wenn erkennendes Fühlen erübt werden will, kann man das reine Denken nicht überspringen: Das erkennende Fühlen kann nur von dieser Seite her bewusst entwickelt werden. Dies bezieht sich nicht auf das ästhetische Fühlen, damit hat es eine andere Bewandtnis, auf die wir noch zurückkommen werden.

      Der Ursprung des Denkens liegt im erkennenden Fühlen, das kann man anhand des Evidenz- und Logizitätsfühlens ahnen; die Beobachtung des Kleinkindes und das Studium archaischer Kulturen bestätigen es. Das Kleinkind erhält durch erkennendes Fühlen die Bedeutung der ersten einigen hundert Wörter und der grammatischen Formen.10 Die technischen, medizinischen, baulichen Leistungen der archaischen Völker, die ohne eine analytische, auf das Denken gegründete Wissenschaft zustande kamen, zeugen von einer verlorenen Fähigkeit, mit den Gegebenheiten der Natur erfolgreich umzugehen.

      Je kontinuierlicher das Denken wird, umso mehr geht es in das erkennende Fühlen über, aus dem es stammt, löst sich im Fühlen auf, wird «global» – erinnern wir uns an den globalen Blick auf ein Gesicht –, wird weniger scharf und analytisch, aber umso umfassender. Der Weg zum erkennenden Fühlen führt durch das konzentrierte reine Denken. Das ist das ursprüngliche Fühlen, sowohl beim einzelnen Menschen als auch bewusstseinsgeschichtlich.

      Es entsteht die Frage: Wann ist dieses Fühlen verloren gegangen, wohin ist es entschwunden? Die Antwort kann wiederum beim Kleinkind und auch kulturgeschichtlich beobachtet werden: Wenn das Kind oder die Menschen in einer Kultur beginnen, in der ersten Person (ich, mich, mein) über ihren Körper, mit dem sie sich identifiziert haben, zu sprechen, tritt ein neues Fühlen auf, das nicht-erkennend ist, das Mich-Fühlen. Das Verwenden der Pronomina der ersten Person ist das Zeichen dieser Identifizierung und der Ausbildung des Mich-Fühlens. Letzteres bedeckt wie ein Gefühls-Mantel den Körper, ohne ihn zu erkennen.11 Mit dem Mich-Fühlen beginnt die Verwandlung des erkennenden Fühlens zum nicht-erkennenden, und daraus resultiert, was wir Emotionen – Gefühlsformen nicht-erkennenden Charakters – nennen. Der Übungsweg im Hinblick auf das Fühlen besteht darin, dass wir die fühlenden Kräfte, die in den Emotionen gefangen und geformt sind, zu befreien versuchen, das heißt sie wieder formfrei und damit erkenntnisfähig machen.

      Besinnung 15: Nur formfreie Kräfte können Formen erkennen oder auch solche schaffen.

      Die Emotionen verlaufen in einer Polarität: Gut – schlecht, das heißt für-mich-gut, für-mich-schlecht, sie sind egoistisch gefärbt, erhöhen das Mich-Fühlen, auch wenn sie unerwünscht zu sein scheinen, wie Ärger, Hass oder Traurigkeit. Man genießt sie auf eine gewisse Weise, sonst würde man sie nicht übertreiben und sich nicht in sie hineinsteigern.12 Die erkennend fühlenden Kräfte sind ihrem Wesen nach so objektiv wie das Denken, das im Prinzip jenseits vom Für-mich-Guten oder -Schlechten lebt; die Wahrheit ist wunsch-neutral.

      Besinnung 16: Suchen wir eine Gefühlserfahrung, die nicht zu einem Pol der Polarität gehört.

      Die erkennenden Gefühlserlebnisse zu benennen ist fast unmöglich – Dichter streben das auf unterschiedlichen Wegen an –, es gibt keine eingebürgerten Namen für sie. Auch die Emotionen werden nur sehr pauschal benannt, denn es gibt zum Beispiel ebenso viele Schattierungen von Ärger, wie es unter den Bäumen, die als «Buche» bezeichnet werden, unzählige unterschiedliche Individuen gibt. Wir sind nicht gewöhnt, die Nuancen der Emotionen zu unterscheiden. Die Übungen werden aus diesen Gründen vorwiegend wortlos geschehen müssen. Und doch werden sie anfangs eben an Unterschiedlichem ausgeübt.

      Was auf dem Gebiet des Denkens «Begriff» oder «Idee» heißt, kann im Bereich des Fühlens «Gefühlsform» oder «Gefühlsidee» genannt werden, analog zu den Ausdrücken «musikalische Idee» oder «malerische Idee».

       Übungen zum erkennenden Fühlen

       10. Übung

      Wir rufen uns Emotionen gleichen Namens in Erinnerung, die wir erlebt haben, beispielsweise verschiedene Ärgernisse oder Personen, auf die wir ärgerlich waren, und versuchen, die Unterschiede zwischen den Fällen zu empfinden; Unterschiede nicht nur in der Stärke, sondern hauptsächlich in der Qualität. Unser Ärger hat ja in den verschiedenen Fällen nicht denselben Stil, nicht dieselbe Färbung. Es kommt nicht darauf an, wie wir die Unterschiede benennen, wir können sie mit dem Namen der Person oder des Ortes oder des Zeitpunktes bezeichnen oder ihnen einen beliebigen Namen geben. Als Nächstes greifen wir eine andere Art von Emotion aus der Erinnerung auf, beispielsweise Eifersucht, vergleichen zwei oder drei solcher Erlebnisse in ihrem «Geschmack» und kehren dann zu der ersten Art – Ärger – zurück. Anschließend beschäftigen wir uns wieder mit der zweiten Sorte von Emotionen – Eifersucht – und so fort, immer abwechselnd. Beim ersten Rückkehren werden die Qualitätsunterschiede mit ziemlicher Sicherheit klarer, plastischer sein, und es kann vorkommen, dass sie bei den weiteren Wiederholungen an Schärfe noch zunehmen. Wir machen diese Übung so lange hintereinander, bis sich die Qualitätserlebnisse nicht mehr ändern. An den nächsten Tagen versuchen wir es wieder. Die Differenzierung wird wachsen.

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