Das Medaillon. Gina Mayer
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Ich sterbe, dachte sie. Sie schloss die Augen, damit sie die Dunkelheit nicht mehr sah. Dann ging es plötzlich nicht mehr weiter, ihr Becken steckte fest, weil sich ihr Rock in einem dicken Wulst zusammengeschoben hatte, ihr wurde heiß und kalt zugleich und sie würgte vor Panik. »Rosalie«, hörte sie Minters Stimme von unten. »Warum sind Sie nicht oben geblieben? Sind Sie von Sinnen?«
Ja, wollte sie antworten, aber sie brachte keinen Ton heraus, und dann spürte sie plötzlich Hände an ihren Beinen, die sie hielten und nach unten zogen.
Sie war in der Höhle, in einer alles umfassenden Dunkelheit, und ihr gegenüber stand Minter und seine Hände umfingen sie und sie hatte überhaupt keine Angst mehr. Irgendwo in der Dunkelheit tropfte Wasser auf Stein, in seiner ruhigen Regelmäßigkeit verband das Geräusch den Schlag ihrer Herzen zu einem Gleichtakt. Dann hörte Rosalie ein Rascheln und ein Ratschen, eine Flamme zerriss die Finsternis und im selben Moment ließ Minter sie los.
»Hier, das ist also meine Höhle«, sagte Johannes. Er warf das Streichholz weit von sich. Es beschrieb einen leuchtenden kleinen Bogen und dann landete es und verlosch. »Wollen Sie sie erkunden?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.
»Rosalie«, sagte Minter und erst nach einigen Augenblicken merkte sie, dass es eine Frage gewesen war.
»Nein«, sagte sie. In dem Moment, in dem Minter sie losgelassen hatte, war auch die Panik wiedergekommen. »Ich gehe ... wieder nach oben.«
Einen Moment lang befürchtete sie, dass sie den Ausgang nicht mehr finden würden, aber als sie sich umdrehte, erkannte sie ihn sofort, einen hellgrauen Schlitz in der Finsternis. Der Rückweg war ganz einfach, obwohl es jetzt nach oben ging, aber ihr Gesicht war nun dem Licht zugewandt. Sie zog sich ans Tageslicht und hinter ihr tauchte Minter auf und schließlich auch der Junge. Minters Gesicht war ganz ruhig und freundlich, als wäre dort unten nichts zwischen ihnen geschehen, als wäre es ganz normal, dass er sie festgehalten hatte. Vielleicht war es der Junge, wahrscheinlich wollte er sich vor ihm nichts anmerken lassen, dachte sie und fühlte sich bestätigt, als Minter auf seine Uhr schaute und feststellte, dass es nun doch später sei als gedacht und dass sie wieder zum Steinbruch zurückgehen sollten, um dort eine Droschke zu nehmen.
»Bekomme ich denn dann meine Belohnung trotzdem?«, fragte Johannes ängstlich.
»Was ich einmal versprochen habe, das halte ich auch«, sagte Minter und starrte dabei angestrengt auf den Waldboden.
Auch als der Junge nicht mehr bei ihnen war, in der Droschke und im Zug nach Elberfeld, blieb Minter stumm und unnahbar. Ihr Abteil war voll, sie quetschten sich zu viert in eine Holzbank, in der eigentlich nur drei Platz hatten. Minter saß Rosalie gegenüber und manchmal begegneten sich ihre Blicke und dann lächelte Minter und wandte die Augen ab. Irgendwann lehnte Rosalie ihren Kopf gegen die schmutzige Fensterscheibe, sie schloss die Augen und tat, als ob sie schlief, aber in Wirklichkeit dachte sie an die Dunkelheit in der Höhle und an Minters Hände und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte, warum er jetzt so stumm und abweisend war.
Erst als der Zug im Hauptbahnhof einfuhr, öffnete sie die Augen wieder und ihr Blick fiel auf ihren Rock und sie sah, wie schmutzig sie war, die Kleider, die Hände, alles starrte vor Lehm. Und Minter war genauso schmutzig wie sie.
Zu Hause weichte sie den Rock gleich in Seifenlauge ein und bearbeitete ihn dann mit einer Wurzelbürste, dennoch blieben gelblich-braune Flecken zurück. Sie plättete ihn und hängte ihn auf einen Bügel in den Schrank, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn nie mehr tragen würde.
Das nasskalte Winterwetter führte zu einem Hochbetrieb in der Praxis, das Wartezimmer ihres Vaters war schon morgens um acht voller hustender, niesender, röchelnder Patienten und Rosalie, die ihrem Vater zur Hand ging, die die Kranken aufrief, wenn sie an der Reihe waren, und die Spucknäpfe auswusch und das Geld in Empfang nahm, wunderte sich jeden Tag aufs Neue darüber, dass sie und ihr Vater noch gesund waren.
Ständig mussten Hustensäfte, Tinkturen und Pulver aus der Apotheke geholt werden, aber Rosalie schickte immer den Nachbarsjungen, nur einmal war sie selbst gegangen. Es war zwei Tage nach ihrem Ausflug gewesen und sie hatte die Hoffnung gehabt, dass sich klären würde, was auch immer zwischen ihr und Minter geschehen war.
Als sie die Apotheke betrat und ihn hinter der Ladentheke sah, spürte sie ihr Herz in ihrem ganzen Körper, in ihrem Brustkorb, in ihrem Hals und tief in ihrem Leib. Er dagegen schien sie gar nicht zu bemerken, erst als sie an der Reihe war, blickte er sie an.
»Guten Tag, Rosalie«, sagte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?« Ihr Herzschlag war jetzt auch im Kopf und dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie nichts entgegnen konnte, weil sie ihre eigene Stimme nicht gehört hätte, also reichte sie ihm einfach nur ihr Rezept.
Er warf einen Blick darauf und verschwand im Nebenraum und dann packte er alles in ihren Korb, der auf der Theke stand, und sie bezahlte und grüßte und ging. Draußen lief sie schneller, immer schneller und schneller, sie spürte den Wind in ihrem Gesicht und die Regentropfen, dabei regnete es gar nicht.
4. Kapitel
»Doch frage ich Sie und die ganze Welt nach einem Gattungsunterschiede zwischen dem Menschen und dem Affen, d.h. wie ihn die Grundsätze der Naturwissenschaft fordern. Ich kenne wahrlich keinen und wünschte nur, dass jemand mir nur einen einzigen nennen möchte. Hätte ich den Menschen einen Affen genannt oder umgekehrt, so hätte ich sämtliche Theologen hinter mir her; nach kunstgerechter Methode hätte ich es wohl gemusst.«
(Carl Linné in einem Brief an Johann Friedrich Gmelin, 1747)
Dorothea reichte Traugott den letzten tropfenden Teller und er trocknete ihn ab und stellte ihn dann zu den anderen ins Regal. Während er die Schüssel mit dem Spülwasser wegbrachte, wischte sie mit dem nassen Lappen über den Tisch, fegen würde sie morgen früh, dachte sie, direkt nach dem Aufstehen. Jetzt würde sie in ihre Kammer gehen, obwohl es noch früh war, sie würde die Bibel oben auf ihr Kopfkissen legen und ihren Roman darunter, so dass sie das eine Buch über das andere schieben konnte, falls jemand hereinkam.
Kirschbaum hatte ihr die Ausgabe morgens auf den Schreibtisch gelegt, zum Aufschneiden und Vorbereiten für den Verleih, und später musste er bemerkt haben, wie sie verstohlen darin blätterte und las, jedenfalls war er ihr abends nachgelaufen, als sie die Bibliothek schon fast verlassen hatte, und hatte ihr das Buch in die Hand gedrückt.
»Sie haben Ihre Lektüre vergessen«, sagte er und lächelte und sie hatte genauso unbeschwert zurückgelächelt. Es war wieder wie früher zwischen ihnen, bevor sie die weinende Frau gesehen hatte.
Sie hatte beschlossen, dass es seine Sache war, womit er sein Geld verdiente, nicht ihr Problem, sie arbeitete gerne für ihn und sie aß gerne mit ihm und sie redete gerne mit ihm. Jetzt, da sie wieder miteinander redeten, schwieg sie sogar gerne mit ihm.
Dorothea nahm sich eine der Öllampen vom Küchenbord. Bevor sie sich in ihre eigene Kammer zurückzog, ging sie noch einmal in das Zimmer der Jungen. Es war erst kurz nach sieben Uhr, aber Hermann schlief schon, seine runde Wange leuchtete auf dem weißen Kopfkissen wie ein roter Apfel und sein Atem ging schnell, vielleicht träumte er etwas Aufregendes. Sie zog die Bettdecke fester um den kleinen Körper, dann ging sie in ihr Zimmer, seufzend