Das Medaillon. Gina Mayer
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»Dorothea.« Ihr Vater öffnete die Tür einen Spalt und zog sie dann erschrocken wieder zu, als er sie im Unterkleid auf dem Bett sitzen sah.
»Was ist denn los?«, fragte sie halb ängstlich, halb ungeduldig.
»Wir haben Besuch«, hörte sie seine halblaute Stimme. »Der Pastor. Kleide dich an und komm in die Stube.«
Sie fühlte eine Welle von Ärger in sich hochsteigen, während des ganzen Abendessens hatte sie sich auf das Buch gefreut, es waren Novellen, aber nichts Romantisches, hatte Kirschbaum gesagt, sondern realistische Beschreibungen aus dem Leben kleiner Leute, die gerade durch ihre Wahrhaftigkeit ans Herz gingen. Die Leute von Seldwyla von Gottfried Keller. Das Buch war so neu, dass man die Druckfarbe noch riechen konnte, ein scharfer, fast ätzender Geruch, der einem durch und durch ging und den sie so sehr liebte.
»Wenn Ihnen der Grüne Heinrich gefallen hat, wird Ihnen dieses Werk auch gefallen«, hatte Kirschbaum noch hinzugefügt. Aber Dorothea hatte den Grünen Heinrich noch nicht gelesen und sie würde auch die Leute von Seldwyla nicht kennen lernen, wenn es so weiterging. Wenn sie immer nur abends heimlich lesen durfte und das auch nur dann, wenn nichts anderes anstand oder wenn der Pastor nicht plötzlich auftauchte, aus welchem Grund auch immer.
Sie zog die kratzenden Wollstrümpfe wieder über die Knie und den Rock darüber.
Pastor Kohlbrügge stand mit den Eltern und Traugott in der Stube, er hielt einen Hut in den Händen, von dessen breiter Krempe Regenwasser auf den Boden tropfte, auch die Schultern seines dunklen Mantels waren schwarz vor Nässe. Der Pastor war groß und hager und seine Größe wurde dadurch noch unterstrichen, dass Herr und Frau Leder ihre Köpfe gesenkt hielten. Die Erwachsenen unterhielten sich in einem leisen Ton, vielleicht war es auch nur Kohlbrügge, der sprach, Dorothea konnte nichts verstehen. In jedem Fall schien es heute einer seiner milden Tage zu sein, dachte sie erleichtert. Denn manchmal war der Pastor geduldig und sanft und väterlich, das waren die milden Tage, und manchmal durchbohrte er einen mit seinen Blicken, wenn man eine seiner Fragen nicht beantworten konnte, und brauste ganz plötzlich auf, ohne dass es einen Grund dafür gab. Das waren die furchtbaren Tage.
Dorothea wollte sich neben ihre Mutter stellen, aber dann klopfte es, und sie ging zur Tür,um sie zu öffnen.
Es war Rosalie, ganz offensichtlich war sie wie der Pastor in den Regen gekommen. Sie zog ihr triefendes Kopftuch vom Haar, die schwarzen Locken kringelten sich nass und schwer um ihr glänzendes Gesicht. »Störe ich?«, fragte sie, als sie Dorotheas Miene sah.
»Nein, nein«, sagte Dorothea. Ausgerechnet heute Abend musste Rosalie vorbeikommen, wo sie sich wochenlang nicht mehr hatte blicken lassen.
»Wer ist es denn?«, rief ihr Vater laut und ungehalten.
»Es ist Rosalie«, gab Dorothea zurück. Und leise zu Rosalie: »Der Pastor ist gerade gekommen.«
»Du meine Güte«, murmelte Rosalie. »Da will ich lieber ...«
»Lass sie in Gottes Namen eintreten und schließt die Tür, dass nicht die ganze Wärme nach draußen geht«, forderte sie ihre Mutter auf.
So stand Rosalie schließlich vor Kohlbrügge und er musterte sie nachdenklich, während Dorothea in die Kammer ging, um ein Handtuch zu holen. »Rosalia«, sagte er mit seinem kehligen holländischen Akzent, als wollte er sich den Namen für immer einprägen.
»Rosalie«, verbesserte ihn Rosalie. Sie war fast so groß wie der Pastor, und sie hielt den Kopf nicht gesenkt. »Ich bin Dorotheas Freundin, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich war schon einige Male in Ihrer Kirche, obwohl wir eigentlich der reformierten Kirche angehören, mein Vater und ich.«
Zu viele Worte, viel zu viele Worte, dachte Dorothea, und sie wusste, dass ihre Eltern das Gleiche dachten, und Dr. Kohlbrügge schien ihre Meinung zu teilen, denn das winzige Lächeln, das seine Mundwinkel nach oben gezogen hatte, verschwand aus seinem Gesicht.
»So, so, der reformierten Kirche gehören Sie also an«, sagte er leise, fast betrübt. Dorothea wusste sofort, was in ihm vorging. Es verletzte ihn, dass Rosalie von ihrer Gemeinde als der reformierten Kirche sprach. Dabei war es doch gerade deshalb zum Bruch, zur Abspaltung gekommen, weil die Niederländisch-Reformierten die wahre reformierte Lehre hochhielten, ohne Konzession an den König und seine neue Gottesdienstordnung.
Rosalie nahm geistesabwesend das Handtuch in Empfang, das ihr Dorothea reichte, dann holte sie Luft, um etwas zu sagen, aber Herr Leder fiel ihr ins Wort.
»Es ist eine schlimme Sache mit der Separation«, meinte er. »Aber es war doch richtig und gerecht und es gab keine andere Möglichkeit, als diesen Schritt zu tun.«
Kohlbrügge nickte und fuhr sich mit der flachen Hand über die hohe Stirn. Eine unbehagliche Stille breitete sich im Raum aus. Rosalies Blick wanderte ratlos vom Pastor zu Herrn Leder und wieder zurück. Sie schien nach Worten zu suchen und Dorothea hoffte inbrünstig, dass sie keine finden würde.
»Nun«, meinte Pastor Kohlbrügge schließlich, »ich bin, wie schon gesagt, nur gekommen, um Ihnen meinen Dank auszusprechen für die erbauliche Andacht, an der teilzunehmen mir leider nicht vergönnt war.« Er gab ihnen allen die Hand, dem Vater und der Mutter, Dorothea und Traugott und schließlich auch Rosalie. »Ich freue mich, wenn Sie uns wieder einmal besuchen in unserer reformierten Kirche.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Rosalie. Sonst sagte sie nichts, zur allgemeinen Erleichterung.
»Gottes Segen, Rosalie«, verabschiedete sich Dr. Kohlbrügge. Chottes Sejgen, Chosalie. Dann brachte Herr Leder ihn zur Tür.
»Bei diesem Wetter allein durch die Stadt zu laufen«, sagte Frau Leder zu Rosalie, als die beiden Männer nacheinander in der Dunkelheit des Hausflurs verschwunden waren. »Du musst den Verstand verloren haben. Nun trockne dich ab, bevor du dir hier den Tod holst.«
»Es sind doch nicht mehr als ein paar Meter von unserem Haus bis hierher«, meinte Rosalie, während sie sich gehorsam mit dem Handtuch übers Gesicht wischte und dann über die Haare rieb.
»Dennoch«, Frau Leder runzelte die Stirn. »Außerdem ist es stockdunkel. Traugott soll dich nachher zurückbegleiten.« Dorothea sah Traugott an, der neben der großen Rosalie noch schmächtiger wirkte als sonst. Er war immer schon klein gewesen, aber seit er mit dem Vater jeden Morgen in die Baumwollweberei in der Hofaue ging, schien er zu schrumpfen anstatt zu wachsen. Es war schwer vorstellbar, wie er Rosalie beschützen sollte, eher müsste sie ihn verteidigen.
»Es hat aufgehört zu regnen«, sagte Herr Leder, der wieder zurückgekommen war und ihre letzten Worte gehört hatte. »Und es ist spät. Traugott soll jetzt mit ihr gehen, er braucht seinen Schlaf.«
Er war verärgert, wahrscheinlich glaubte er, dass Pastor Kohlbrügge länger geblieben wäre, wenn Rosalie nicht dazwischengekommen wäre.
»Aber Tante Marthe, Dorothea kann doch mitkommen«, sagte Rosalie. »Sie kann bei uns schlafen, das Haus ist ja groß genug.«
Rosalie machte solche absonderlichen Vorschläge immer mit der größten Selbstverständlichkeit. Als wäre es ganz normal, dass zwei Mädchen mitten in stockfinsterer Nacht durch die Straßen liefen und die eine bei der anderen übernachtete, ohne dringenden Grund, nur weil ihnen nach ein bisschen Unterhaltung zumute war.
»Es kommt nicht in Frage«, beschloss Herr Leder sofort. Er erhob dabei nicht einmal die Stimme und seine Frau nickte, ernst und ein wenig bedauernd.
»Aber