Das Medaillon. Gina Mayer

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Das Medaillon - Gina Mayer

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war hart und grau wie die Grabplatten. Seine Frau dagegen schien ruhig und gefasst, fast heiter unter ihrer schwarzen Schute. Ihre Hände umklammerten ihr Gesangsbuch, aber es war nicht aufgeschlagen, sie kannte die Lieder auswendig. Wenn man sie sieht, möchte man meinen, dass es ein ganz normaler Gottesdienst ist, dachte Rosalie. Dabei trägt sie ihren Sohn zu Grabe, ihr jüngstes Kind.

      Herr Leder und zwei andere Männer ließen den kleinen Sarg in das große Grab hinabsinken und Dr. Kohlbrügge begann wieder zu sprechen, jetzt las er aus der Bibel. »Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit was für einem Leib werden sie kommen?« fragte er. »Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn.«

      Der Sarg war nun im Erdboden verschwunden und die Männer beugten sich über die Grube, als wollten sie ihm nachblicken, aber sie zogen nur die Seile wieder hoch, mit dem sie ihn hinuntergelassen hatten. Frau Leder nickte und verzog den Mund, es sah aus, als ob sie lächelte.

      »Nicht alles Fleisch ist das gleiche Fleisch«, las Kohlbrügge, »sondern ein anderes Fleisch haben die Menschen, ein anderes das Vieh, ein anderes die Vögel, ein anderes die Fische.« Rosalie musste unwillkürlich an ihren Vater und Fuhlrott denken und an ihre Naturstudien. Diese Bibelstelle hätte ihnen gefallen. Und dieser Friedhof würde ihnen gefallen, auf dem alle gleich waren – Arme und Begüterte, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene. Bei den Niederländisch-Reformierten gab es keine Verwesungsgräber, in denen die Armen verscharrt wurden, und keine prachtvoll verzierten Grabstätten für die Reichen. Ein Rosenstock und ein Stein kennzeichneten jedes Grab und Hermanns Grab würde die Nummer 79 tragen, denn er war der neunundsiebzigste Tote in der Gemeinde.

      »Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib«, las Kohlbrügge. »Amen«, murmelte neben Rosalie eine alte Frau. Dr. Kohlbrügge klappte seine Bibel zu und senkte den Kopf zum stillen Gebet. Auch Rosalie senkte den Blick zu Boden und als sie ihn wieder hob, sah sie Frau Leder schwanken und dann knickte sie in den Knien ein und fiel langsam, ganz langsam nach vorn. Im letzten Moment hielten Dorothea und ihr Mann sie fest, bevor sie kerzengerade im Grab ihres Kindes landete.

      Danach zerstreuten sich alle rasch, sie gingen zur Totenfeier. Rosalie blieb noch ein paar Minuten vor dem offenen Grab stehen, dann setzte auch sie sich in Bewegung. Über die neue Lindenallee ging sie zur Straße nach Elberfeld hinunter. Sie schrak zusammen, als sich vor ihr plötzlich eine kleine, untersetzte Gestalt aus dem Schatten eines Baums löste. Es war ein Mann und auch er schien zu erschrecken, als er sie bemerkte, offensichtlich hatte er hinter einem Baumstamm abgewartet, bis alle weg waren. Er schob seinen dunklen Hut tiefer in die Stirn und hastete mit gesenktem Kopf durch den Nieselregen davon.

      Sie hatte ihn dennoch erkannt, in dem kurzen Moment, in dem er ihr sein Gesicht zugewandt hatte. Es war Isaak Kirschbaum, der Jude, bei dem Dorothea arbeitete.

      Hermann hatte auf der Straße gespielt, an dem letzten kalten, sonnigen Märzmorgen in seinem Leben, es waren auch andere Kinder dabeigewesen, aber Hermann war der Einzige gewesen, der mitten auf der Straße gesessen hatte. Dort gab es eine besonders schöne, große Pfütze, auf der er einen Staudamm baute, er hatte ihn fast fertiggestellt, als die Droschke um die Ecke jagte und sein Werk zerstörte und ihn auch.

      Rosalie hatte es erst zwei Tage später erfahren, von den Frauen an der Pumpe, und sie war am gleichen Abend zu den Leders gegangen, um ihnen ihr Beileid auszusprechen. Sie war nur kurz geblieben und Dorothea war ihr wie versteinert erschienen, von allen Brüdern war ihr Hermann der liebste gewesen. Als Rosalie ging, begleitete Dorothea sie zur Haustür. »Das hat der allmächtige Herrgott getan«, flüsterte sie Rosalie zu. »Er hat uns Hermann genommen, um mich für meine Lügen zu bestrafen.«

      »Was für ein Unfug«, erwiderte Rosalie. »Wenn er dich hätte strafen wollen, hätte er doch wohl dich getötet und nicht Hermann.«

      »Nein«, sagte Dorothea. »Er nimmt das, was einem am liebsten ist. Er hat auch den Ägyptern den erstgeborenen Sohn genommen und dem Pharao, denn damit traf Er sie am härtesten.«

      Das war vor vier Tagen gewesen und jetzt lag Hermann unter der Erde, ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch, wie Kohlbrügge es ausgedrückt hatte, und Rosalie lief nach Hause. Sie musste sich beeilen, denn heute war Dienstag. Dienstags tagte immer der Naturwissenschaftliche Verein und damit er pünktlich zu den Sitzungen kam, erwartete ihr Vater sein Abendbrot eine Stunde früher als sonst und das Mittagessen eine halbe Stunde früher, damit eins zum anderen passte.

      »Heute Abend geht es wieder einmal um die Gebeine aus dem Neandertal«, sagte Kuhn, als sie die Suppe löffelten. »Fuhlrott stellt Schaaffhausens Vermessungsergebnisse der Schädelkalotte vor, es ist sozusagen die Generalprobe für die große Präsentation vor dem Naturhistorischen Verein in Bonn, die er zusammen mit Schaaffhausen und Mayer bestreiten will.«

      »Nun, hier in Elberfeld wird es doch nicht allzu schlimm werden«, meinte Rosalie. »Im Verein erwartet ihn bestimmt ein wohlgesonnenes Publikum, das seinen Erkenntnissen mit dem größten Interesse begegnet.«

      Ihr Vater lachte kurz und trocken. »Ob wohlgesonnen oder nicht, der größte Teil der Anwesenden wird mit Befremden reagieren, wenn man einmal von Minter und mir absieht. Beschränken wir unsere Diskussionen endlich wieder auf angemessenere Gebiete, werden sie fordern. Fokussieren wir uns auf die verschiedenen Spezies der Primula oder auf die Vogelfauna des Wuppertales oder auf die Rückenwirbel der Klapperschlange, denn das sind die richtigen Themen für einen Verein christlich gesonnener Männer.«

      Rosalie rührte in ihrer Suppe und spürte dem Schmerz nach, den der Name Minter in ihr auslöste. »Und ich dachte, ihr wäret so aufgeschlossen.«

      »Aufgeschlossen im Rahmen des Akzeptierten«, sagte Kuhn. »Aber die festgelegten Grenzen wagt man nicht zu überdenken. Die Herren haben wohl Angst, dass dann ihr ganzes Weltbild zusammenbrechen könnte.«

      Nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, fegte Rosalie das Wartezimmer und ärgerte sich über die Leute, die mit ihren schmutzigen Stiefeln ins Haus trampelten und einfach auf den Boden spuckten, obwohl sie überall Spucknäpfe aufgestellt hatte und ihr Vater allen seinen Patienten predigte, dass das Ausspucken unhygienisch sei, eine ekelerregende Unart, die nicht in die moderne Zeit passte.

      Danach trat sie auf die Straße, legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Himmel war ein schwarzes Tuch mit hellgelben Punkten. Sie dachte an Minter, wie immer, wenn sie zur Ruhe kam, und stellte sich vor, dass er neben sie trat.

      »Guten Abend, Rosalie.« Ihr Kopf fuhr herum. Der Apotheker stand unter einer Laterne, nur ein paar Meter von ihr entfernt. In dem kalten Gaslicht sah er aus wie eine Geistererscheinung, das Gesicht so fahl. Aber es gab keine Geister, also war er es wirklich.

      »Was ... was wollen Sie denn hier?« Ihre Stimme klang feindselig. Ihr war auf einmal kalt.

      »Ich wollte Ihren Vater abholen, wir wollen gemeinsam zur Vereinssitzung.«

      »Kommen Sie«, sagte sie, und griff nach ihrem Besen. Sie trat vor ihm ins Haus. Als sie im hellen Licht der Öllampe stand, wurde ihr bewusst, wie sie aussah. Sie hatte die Haare straff nach hinten gekämmt und unter einem Tuch versteckt, nichts lenkte von ihrer großen Nase und der hohen Stirn ab. Hässlich wie ein Waschweib.

      „Mein Vater ist oben“, sagte sie. „Sie kennen den Weg.“

      Er ging aber nicht nach oben, sondern machte einen Schritt auf sie zu und legte seine Hand auf ihren Arm. »Rosalie«, sagte er. »Es tut mir so leid, was geschehen ist.«

      »Ach ja?« Mit einem Mal fand sie es richtig, dass ihr Gesicht

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