Das Medaillon. Gina Mayer
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»Das mag ja stimmen, aber es widerlegt Minter keineswegs.«
»Er hat keine Beweise«, ihr Vater klang plötzlich ungeduldig. »Und durch seine unsachlichen Anmerkungen hat die ganze Sitzung eine äußerst unerfreuliche Wendung genommen.«
»Du hast selbst gesagt, dass man die festgelegten Grenzen überdenken muss. Auch wenn man Gefahr läuft, dass einem sein Weltbild zusammenbricht.«
»Ja«, sagte Kuhn. »Aber das mit dem Affen geht dennoch zu weit, das musst du doch zugeben.«
Anfang April begann der Frühling. Am Sonntag, dem Tag, an dem Minter mit Rosalie sprechen wollte, war es bereits so warm und sonnig wie sonst erst im Mai.
Rosalie war fest entschlossen, den Apotheker nicht zu treffen. Sie wusste ja, was er ihr sagen wollte: dass es keinen Sinn hätte mit ihnen beiden und dass er sich sein ungebührliches Verhalten in der Höhle selbst nicht erklären konnte. Vielleicht gab es eine andere, die er liebte, der er sich verpflichtet fühlte, vielleicht auch nicht, in jedem Fall wollte sie nichts davon hören, es interessierte sie nicht, warum er sie nicht wollte. Es war schlimm genug, dass er sie nicht wollte.
Sie würde ihn kurz abfertigen, sachlich und kühl. Und ihn dann vergessen.
Nach der Kirche wusch sie sich die Haare und während sie trockneten, bügelte sie ihr weißes Kleid mit dem roten Jacquarddruck auf. Es war nicht mehr ganz modern, aber es ließ ihr Gesicht sanfter und mädchenhafter erscheinen, zumindest empfand sie es so. Das alles tat sie nicht, weil sie ihre Meinung geändert hatte, sondern weil sie in dem kurzen Moment, in dem sie ihm gegenüberstehen und ihn abweisen würde, mustergültig aussehen wollte. Schön und stark und kalt. So sollte er sie in Erinnerung behalten.
Um zwei ging die Türglocke. Sie zählte langsam bis zwanzig, bevor sie sich erhob, um nach unten zu gehen. Es tut mir leid, würde sie sagen. Ich werde nicht mit Ihnen kommen, es hat keinen Sinn. Und dann würde sie die Tür wieder schließen.
Sie fand, dass er sehr blass und nervös aussah, als er vor ihr stand. Er hielt seinen schwarzen Hut in Brusthöhe und drehte ihn ein Stück nach links, dann nach rechts, wie ein Kapitän sein Steuerrad. »Wie freue ich mich, Sie zu sehen, Rosalie«, sagte er und lächelte ein wenig unsicher, aber voller Wärme. »Gehen wir ein Stück spazieren?«
Da holte sie ihren Mantel und sie gingen los.
Sie spazierten die Laurentiusstraße hinunter und bogen dann ins Mäuerchen ein, zu ihrer Rechten glitzerte die Wupper in der Frühlingssonne und verbreitete einen abscheulichen Gestank, der im Hals kratzte, wenn man ihn einatmete. Minter verzog das Gesicht.
»Diese verfluchten Textilfabriken«, sagte er. »Die Farben und Bleichmittel machen den Fluss zur Kloake. In dieser Brühe schwimmt doch kein lebender Fisch mehr.«
Rosalie erinnerte sich plötzlich daran, wie sie als Kind noch in der Wupper gebadet hatte. Auch damals hatte es Baumwollfärbereien gegeben und vor der Stadt hatten die Bleicher die Stoffe in ihren stinkenden Bottichen eingeweicht, in die Sonne gelegt und anschließend im Fluss wieder ausgewaschen. Ihr Vater hatte ihr das Baden zwar verboten, zum einen, weil es sich für ein Mädchen nicht gehörte, in nassen Kleidern im Wasser herumzuhopsen, zum anderen, weil das Wasser damals schon Hautausschläge und Durchfall verursachte. Aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Wie eigentlich immer.
Heute kam niemand mehr auf die Idee, im Fluss zu schwimmen. Von der Schossbleiche bis zur Hofaue reihte sich eine Textilfabrik an die andere. Jedes Unternehmen nutzte den Fluss, um seinen Unrat zu entsorgen, die Reste von Farben und Säuren und Giften, und drüben in Barmen sah es nicht anders aus.
»Es ist überall das Gleiche«, sagte sie. »Hier wie im Neandertal. Die modernen Zeiten zerstören die Natur.«
Minter nickte, aber er schien nicht bei der Sache zu sein. Vielleicht war es das Stichwort Neandertal, das ihn an den eigentlichen Grund ihres Spaziergangs erinnerte. Er runzelte die Stirn und beschleunigte seine Schritte, dann blieb er plötzlich stehen. »Hören Sie«, sagte er. »Das Missverständnis zwischen uns muss geklärt werden.«
Sie begegnete seinen Augen und fühlte, wie sich ihr Innerstes auflöste. Alles in ihr schmolz, auch ihr Gehirn, weshalb ihr keine Antwort einfiel, und wenn ihr etwas eingefallen wäre, hätte sie es nicht sagen können, denn ihre Zunge und die Muskeln, die sie bewegten, waren ebenfalls weich und nutzlos.
»Lassen Sie mich aufrichtig mit Ihnen sprechen«, sagte Minter. »Ich empfinde sehr viel für Sie, das haben Sie selbst bemerkt, das ist ja ganz offensichtlich ...«
Er machte eine Pause und rang nach Worten. Rosalie starrte auf ihre Schuhspitzen und wartete darauf, dass ihr Körper auf dem Bürgersteig zerfloss und in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen versickerte.
»Aber es kann nicht sein, unsere Verbindung muss beendet werden«, fuhr er endlich fort. »Sie muss beendet werden, bevor sie richtig begonnen hat, auch wenn es mir in der Seele schmerzt.«
Unsere Verbindung muss beendet werden. Als ob nicht er und nicht sie, sondern irgendein Dritter die Beendigung der Verbindung erledigen sollte.
»Wenn es eine Möglichkeit gäbe«, sagte er, »irgendeine Möglichkeit, so wollte ich sie sofort ergreifen, aber ich sehe keine.«
Seine Augen glänzten, vielleicht waren es Tränen, vielleicht war es aber auch nur die Frühlingssonne, die sich in der dunklen Iris spiegelte.
»Es ist nämlich so, dass ich verheiratet bin«, erklärte er.
Es dauerte eine Weile, bis die letzten fünf Worte durch ihr aufgeweichtes Inneres in ihr Bewusstsein gespült worden waren. Als sie endlich begriff, spürte sie nichts. Kein Erstaunen, keine Trauer, keine Wut. In ihr war alles leer. Das war es also, da war die geheimnisvolle dritte Person, die ihre Verbindung für sie beenden würde. Seine Frau.
»Wo ist sie denn?«, fragte sie mit einer fremden, ruhigen Stimme. »Ihre Frau?«
»Zu Hause«, sagte Minter. »Jedenfalls heute.«
»Kommen Sie«, meinte er dann und setzte sich in Bewegung. Er bog am Wirmhof in Richtung Herzogstraße ein und sie folgte ihm, wie sie ihm auch vorhin gefolgt war.
Die folgenden Ereignisse nahm sie mit einer solchen Klarheit wahr, dass sie sich später an jeden Eindruck, jedes Detail erinnern konnte und alles genau hätte erzählen können, wenn sie danach gefragt worden wäre. Minter und sie gingen durch das düstere Treppenhaus, in dem es nach Grünkohl roch, der Schlüssel machte ein kratzendes Geräusch im Schloss und als er die Tür öffnete, knirschte es, so als rieben winzige Steine oder Sandkörner zwischen Türblatt und Boden. Es waren auch Kratzspuren auf den schwarz-weiß-gesprenkelten Fliesen zu sehen.
»Maria«, rief er leise. Er hängte seinen Mantel an einen Haken hinter der Tür und half Rosalie aus ihrem Mantel und hängte ihn daneben. Dann gab er ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und obwohl sie ganz normal auftraten, hatte sie das Gefühl, dass sie auf Zehenspitzen gingen.
Ihr Herz schlug schneller, als sie sah, wie sich die Tür am Ende des Flurs öffnete, nur einen Spalt breit und aus dem Spalt schob sich ein junges Mädchen, sie war vielleicht sechzehn,