Das Medaillon. Gina Mayer
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»Wenn du möchtest«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie sich vorhin verabschiedet hatte, »kann ich heute Nachmittag ein bisschen bei Tantchen sitzen, von vier Uhr bis zur Andacht um sechs. Dann kannst du ein paar Schritte tun, du kommst ja gar nicht mehr aus dem Haus.«
Ihre Eltern und die ganze Gemeinde betrachteten Dorotheas aufopfernde Fürsorge mit größtem Wohlwollen, Dorothea hatte selbst einmal gehört, wie einer der Ältesten sie einem jungen Mädchen als Vorbild hinstellte. Sie, Dorothea, die Lügnerin, die Betrügerin. Wenn ihr wüsstet, hatte sie gedacht, und dann wieder an Kirschbaums Worte. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.
Sie würde Rosalie besuchen, solange ihre Mutter auf Tante Lioba aufpasste. Früher hatten sie ihre Sonntagnachmittage immer gemeinsam verbracht. Damals hatten sie sich auch jeden Morgen an der Pumpe auf dem Königsplatz getroffen. Inzwischen sahen sie sich kaum noch. Hier oben in der Nordstadt bei Tante Lioba hatte Rosalie sie noch kein einziges Mal besucht und auch Dorothea war monatelang nicht mehr bei Rosalie gewesen.
Als sie sich auf den Weg machte, war es nicht mehr so heiß, dennoch war sie schon nach wenigen Schritten nass geschwitzt. In der Laurentiusstraße dauerte es lange, bis jemand öffnete. Als Dr. Kuhn vor ihr stand und sie aus großen verschwommenen Brillenaugen musterte, wusste Dorothea, dass Rosalie nicht zu Hause war.
»Sie ist ... spazieren«, erklärte Kuhn.
»Spazieren?«, fragte Dorothea. »Ganz allein? Wie lange ist sie denn schon weg? Und wo ist sie hin?« Vielleicht konnte sie sie ja noch einholen.
»Eine Weile schon«, sagte Kuhn vage. Auf die anderen beiden Fragen antwortete er gar nicht, er sah Dorothea nur ratlos an. Ganz offensichtlich wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo seine Tochter steckte.
»Schade«, sagte Dorothea. »Nun, wenn sie zurückkommt, richten Sie ihr doch bitte aus, dass ich hier gewesen bin.«
»Dorothea«, fügte sie schnell hinzu, als sie bemerkte, wie sich seine blauen Augen zusammenzogen.
»Dorothea«, nickte Kuhn. »Natürlich.«
Auf dem Weg nach Hause ging sie über den Heckweiher, an der Apotheke waren die Gitter vor den Fenstern zugezogen und mit großen schmiedeeisernen Schlössern gesichert. Sie dachte an die Botschaft des Apothekers, die sie Rosalie nie ausgerichtet hatte. Ob Rosalie jemals davon erfahren hatte?
Wo mochte sie sein? Früher wäre es undenkbar gewesen, dass eine von ihnen nicht wusste, was die andere tat. Früher hatten sie einander verstanden, sie hatten sich vertraut, bei aller Gegensätzlichkeit. Aber jetzt hatten sie sich auseinandergelebt.
Vom Neumarkt aus bog sie in die Friedrichstraße ein. Die Häuser waren mit dunklem Schiefer verkleidet, die Fassaden grau und schuppig wie die Haut alter Echsen. Fensterscheiben glitzerten im Sonnenlicht wie Augen.
Dorothea versuchte sich zu erinnern, wann ihre Entfremdung begonnen hatte. Mit ihrer Arbeit bei Kirschbaum. Aber eigentlich schon früher. Es waren die Knochen aus dem Neandertal. Damit hatte es angefangen.
Am nächsten Morgen kam Rosalie in die Bibliothek, Kirschbaum brachte sie zu Dorothea ins Hinterzimmer.
»Du warst gestern bei mir«, sagte Rosalie. »Ist etwas passiert?«
»Ich hatte ein wenig Zeit und wollte mit dir spazieren gehen. Aber du warst nicht da.«
»Ich war auf dem Nützenberg. Mit Karl Bomann und Elisabeth Kraus und noch einigen mehr, wir haben ein Picknick gemacht bei dem schönen Wetter.«
Rosalie traf sich manchmal mit den jungen Leuten aus dem Viertel, sie fuhren zusammen aufs Land und wanderten oder gingen zum Tanzen. Dorothea war niemals dabei, ihre Eltern hätten es nicht erlaubt, und sie machte sich auch nichts daraus.
Es hätte also stimmen können, aber es war nicht wahr. Dorothea war inzwischen so geübt im Lügen, dass man ihr nichts mehr vormachen konnte, sie merkte es sofort, wenn jemand nicht die Wahrheit sagte. Rosalie log sie an, die Erkenntnis machte Dorothea so schwindlig, dass sie nach der Tischkante griff, um sich daran festzuhalten. Rosalie, die Aufrichtige, die Kompromisslose, die Ehrliche. Die Einzige, die über Dorotheas Doppelleben Bescheid wusste, Kirschbaum einmal ausgenommen. So weit hatten sie sich also voneinander entfernt. Das war aus ihrer Freundschaft geworden.
Dorothea nahm ein Buch von dem Stapel auf ihrem Schreibtisch und starrte hinein, um Rosalie nicht ansehen zu müssen. »War es schön?«, fragte sie. Ihre Stimme klang ein bisschen dünn.
Rosalie schwieg, vielleicht nickte sie, aber da Dorothea nicht von ihrem Buch aufblickte, konnte sie es nicht sehen. »Wie geht es Tante Lioba?«, hörte sie Rosalie fragen. »Du bist jetzt ganz zu ihr gezogen, steht es sehr schlimm um sie?«
»Schlecht.«
»Du meine Güte«, murmelte Rosalie, und dann schwiegen sie beide. Dorothea klappte ihr Buch wieder zu und legte es zur Seite, dann starrte sie auf den Stapel Bücher zu ihrer Linken, die alle noch aufgeschnitten werden mussten, bevor sie Karteikarten dafür schreiben konnte. Plötzlich wünschte sie sich, dass Rosalie endlich ginge, sie hatte noch so viel zu tun, und statt zu arbeiten saß sie hier herum und redete dummes Zeug und wurde angelogen.
Aber dann sah sie Rosalie an und sah, dass ihre Augen ganz feucht waren.
»Ich war gar nicht mit Karl und Elisabeth auf dem Nützenberg«, flüsterte sie. »Sondern mit jemand anderem.«
»Ich weiß.« Dorothea hatte jetzt selbst Tränen in den Augen, obwohl es gar keinen Grund dafür gab. Rosalie hatte sich mit dem Apotheker getroffen. Obwohl Dorothea seine Nachricht nicht ausgerichtet hatte, waren die beiden doch zusammengekommen, und nun trafen sie sich heimlich.
»Minter«, sagte sie laut.
Rosalie nickte nicht, aber sie schüttelte auch nicht mit dem Kopf, sie sah Dorothea nur an und schwieg.
»Warum darf dein Vater nicht von ihm wissen?«, frage Dorothea. »Die beiden verstehen sich doch so gut, wäre er nicht erfreut über eure Verbindung?«
Rosalie zuckte mit den Achseln. »Es gibt auch viel Trennendes zwischen ihnen«, sagte sie dann. »Minter ist ihm zu radikal in seinen Ansichten.«
Aber das war nicht der Grund, warum sie ihrem Vater die Zusammentreffen mit dem Apotheker verschwieg, dachte Dorothea. Es gab einen anderen Grund, warum die Verbindung geheim bleiben sollte.
»Pass auf, was du tust, Rosalie«, meinte sie ernst.
Rosalie wirkte einen Moment lang, als wollte sie in Tränen ausbrechen, aber dann lachte sie, ein kurzes, spöttisches Lachen. Wie recht sie hatte.
Dorothea war die Richtige, so zu reden.
Die Kirche in der Deweerthstraße war schlicht und streng und ernst. Mochten sich andere Gotteshäuser zum Himmel türmen oder aufplustern wie Pfauen, die Kirche der Niederländisch-Reformierten blieb am Boden. Der Glockenturm auf dem Vorbau mit seiner einsamen Glocke, die nur die volle Stunde schlug, überragte das Dach des Mittelschiffs nur um wenige Zentimeter. Hochmut, sagte das Gebäude jedem, der es hören wollte, Hochmut ist im Angesicht Gottes fehl am Platze. Wer Ihn ehren will,