Das Medaillon. Gina Mayer

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Das Medaillon - Gina Mayer

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ging nicht auf ihre Frage ein, sondern sah sie nur an, vielleicht dachte er über ihre Hässlichkeit nach. »Ich muss mit Ihnen reden«, sagte er.

      Sie zuckte mit den Schultern

      »Am nächsten Sonntag«, meinte er. »Nach dem Mittagessen.«

      Dann nickte er kurz, als wäre alles zwischen ihnen geklärt, und ging ohne ein weiteres Wort zur Treppe und nach oben.

      Sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Sie lag im Bett, atmete ein und wieder aus und starrte in die Dunkelheit und malte sich endlose, sinnlose Unterhaltungen mit Minter aus und Situationen, in denen sie sich begegneten, alltägliche und verrückte und geradezu widersinnige Situationen, die aber alle gleich endeten. Er hielt sie und sie hielt ihn.

      Nach einer Stunde schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und Pantoffeln und ging ins Kaminzimmer. Sie warf noch eine Schütte Kohle auf die Glut, obwohl es schon nach Mitternacht war. Setzte sich dann auf die Ofenbank, die Wärme der Kacheln im Rücken.

      Sie blätterte in einer Broschur, die ihr Vater aufgeschlagen auf dem Tisch hatte liegen lassen. »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten.« Der Verfasser war Hermann Schaaffhausen, der Professor, den Fuhlrott in Bonn besucht hatte, um ihm die Knochen aus dem Neandertal zu zeigen.

      Am Anfang überflog sie die Zeilen nur, weil sie erwartete, dass der wissenschaftliche Text zu kompliziert für sie wäre, dann stellte sie überrascht fest, dass sie alles verstand. Dieser Schaaffhausen vertrat die Ansicht, dass sich alle Arten, ob Pflanzen oder Tiere, seit ihrer Entstehung im Wandel befanden. Auch die Menschen schloss er aus diesem Prozess nicht aus, er hielt es im Gegenteil sogar für wahrscheinlich, dass der Mensch in Tiergestalt geschaffen worden war und erst nach und nach, im Laufe von Jahrtausenden, seine heutige Vollendung erreicht habe. Kein Wunder, dass ihn die Knochenfunde so interessieren, dachte Rosalie. Der affenähnliche Schädel mit seinen Wülsten über den Augenhöhlen und die groben, schweren Knochen untermauerten seine These. Die Kreatur aus der Feldhofer Grotte war demnach eine frühzeitliche Station auf dem Weg zur Perfektion, ein Stein im Mosaik der menschlichen Entwicklung zur heutigen Vollkommenheit.

      Rosalie musste plötzlich an die erste Unterhaltung denken, die ihr Vater, Fuhlrott und Minter geführt hatten, im Sommer, hier in diesem Zimmer. Minters eigenartige Holzfällertheorie, seine Annahme, dass eine Generation ihre erworbenen Fähigkeiten an die nächste weitergab. Auch er hatte damals von einer Entwicklung gesprochen und in einem Punkt war er sogar noch weitergegangen als Schaaffhausen, wenn sie es richtig in Erinnerung hatte. Der Prozess ist niemals abgeschlossen, hatte er gesagt. Alles geht immer weiter.

      Die beiden Doktoren hatten mit Skepsis reagiert und das mit gutem Grund. Denn wenn Minters Aussage stimmte, dann war der Mensch eben nicht die Krone der Schöpfung, für die er sich hielt. Irgendwann einmal, in einem weit entfernten, unvorstellbaren Zeitalter würde er sich vielleicht dem annähern, wonach er seit Anbeginn der Welt strebte: seinem Ideal, Gottes Ebenbild. Aber von diesem Stadium unterschied sich der heutige Mensch so stark wie die Kaulquappe vom Frosch.

      Sie ließ das Heft auf ihren Schoß sinken und schauderte. Wenn Minter recht hatte, dann waren sie selbst und er, ihr Vater und Fuhlrott, dann waren alle heutigen Menschen – nichts. Dann waren sie wertlos im Vergleich zu den herrlichen Wesen, die sich im Laufe der Zeit herausbilden würden. Die wiederum ihrerseits nichts waren im Hinblick auf die Entwicklung, die die Generationen nach ihnen durchlaufen würden. Denn der Prozess war ja niemals abgeschlossen.

      Sie legte Schaaffhausens Aufsatz zur Seite, umschlang die kalten Beine mit den Armen und stützte ihr Gesicht auf die Knie. Die flackernde Öllampe auf dem Kaminsims warf bedrohliche Schatten an die Wand. Vielleicht war es falsch, die verschiedenen Stufen der Menschheit, die Formen der Entwicklung in ihrer chronologischen Reihenfolge zu sehen und zu bewerten, dachte Rosalie. Vielleicht war jede Entwicklungsstufe nur eine Antwort auf ihre jeweilige Zeit. Und darüber hinaus waren alle gleich viel wert oder gleichermaßen wertlos, wie man die Sache eben betrachtete. Sie alle waren Menschen, Brüder und Schwestern, der Tiermensch aus dem Neandertal, der zukünftige Mensch und sie selbst auch.

      Sie spürte Hände auf ihren Schultern und als sie aufsah, stand ihr Vater vor ihr, mit weit geöffneten, besorgten Augen hinter glitzernden Brillengläsern. »Was machst du denn noch hier, Kind? Weißt du nicht, wie spät es ist?«

      Ganz offensichtlich war sie auf der Ofenbank eingeschlafen. Sie reckte sich und spürte jeden einzelnen Knochen in ihrem Körper. »Wie war die Sitzung?«, fragte sie. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an.

      »O, es war ein Desaster«, sagte ihr Vater und sah plötzlich nicht mehr besorgt aus, sondern wütend. »Sie wollen es einfach nicht hören, jedenfalls nicht von einem Fuhlrott. Ja, wenn es Ihnen eine anerkannte Kapazität der Wissenschaft verkündet hätte, ein Spring oder ein Lyell oder ein de Perthes oder meinetwegen auch ein Anatom wie Schaaffhausen, dann hätten sie sich unter Umständen herabgelassen, die Sache in Erwägung zu ziehen. Aber ein hiesiger Realschullehrer und eine solche bahnbrechende Entdeckung, das ist vermessen, das muss ein Irrtum sein.«

      »Haben Sie Fuhlrott ausgelacht?«, fragte Rosalie und unterdrückte ein Gähnen.

      »Aber nein, nicht doch, sie haben ihn angehört und seine Gipsabgüsse mit großem Ernst betrachtet und mit ihren Fingern betastet, aber es war so ein Ausdruck in den Gesichtern, so ein spöttischer Glanz in den Augen ...«

      »Vielleicht täuschst du dich«, meinte Rosalie achselzuckend. Während sie geschlafen hatte, war das Feuer im Ofen endgültig heruntergebrannt und die Kälte war ihr in alle Gliedmaßen gekrochen. Sie kreuzte die Arme über der Brust und rieb sich mit den Händen über die Oberarme. »Immerhin ist es eine phänomenale Entdeckung, man kann es den Herren also kaum verübeln, wenn sie sie mit einer gewissen Skepsis betrachten.« Jetzt gähnte sie doch.

      »Nein, das kann man nicht. Dennoch«, sagte Kuhn. »Ich war doch dabei, ich weiß doch, wovon ich spreche. Wenn wenigstens Minter sich zurückgehalten hätte, der verflixte Apotheker.«

      »Minter?« Von einer Sekunde zur anderen verzog sich die Müdigkeit aus ihrem Kopf. »Ist er Fuhlrott etwa auch in den Rücken gefallen?«

      »Genau das«, sagte Kuhn finster. »Auch wenn es mitnichten seine Absicht war. Durch seinen blödsinnigen Affenvergleich hat er alles zunichte gemacht.«

      »Was hat er denn gesagt?«

      »Er stellte zur Diskussion, ob die Gebeine eine Übergangsform darstellten in der Entwicklungsreihe vom Affen zum Menschen. Dabei versuchte er seine These durch den absurden Hinweis auf die neue Affenart zu untermauern, die zu Beginn des Jahres im Westen Afrikas entdeckt worden ist.«

      »Eine neue Affenart?«

      »Der Gorilla-Affe, eine besonders kräftige Spezies der Menschenaffen, die sich teilweise vornübergebeugt auf zwei Beinen fortbewegt und aus der sich der Mensch herausentwickelt haben soll, Minters Meinung nach. Er verglich die Schädelkalotte aus dem Neandertal mit dem grobschlächtigen Tierschädel, ohne einen solchen allerdings vorweisen zu können, ach, es ist reine Spekulation und unserer Sache wenig dienlich ...«

      »Aber Schaaffhausen vertritt doch eine ganz ähnliche Theorie«, meinte Rosalie und zeigte auf die Broschur, die neben ihr auf der Ofenbank lag. »Er hält es für denkbar, dass wir einst aus der Tiergestalt hervorgegangen sind und findet nichts Verwerfliches an einem solchen Gedanken.«

      »Mag sein, dass er es für denkbar hält. Aber es gibt keinerlei Beleg für eine solche Annahme und als Wissenschaftler braucht man nun einmal Beweise für jede Behauptung. Und die kann Minter nicht vorweisen, weil sie nicht existieren, weswegen er lieber den Mund gehalten hätte.

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