Das Ende des Laufstegs. Martin Willi
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Читать онлайн книгу Das Ende des Laufstegs - Martin Willi страница 8
«Klar, bin schon unterwegs», bereits hielt Erwin den Türgriff in der Hand und wollte Petras Büro verlassen.
«Wie steht es mit einer Pressekonferenz? Wir müssen doch die Medien informieren.»
«Die Staatsanwaltschaft hat bereits einen Termin festgelegt, heute um 16.30 Uhr.»
«Ach? Und warum sagst du mir das erst jetzt? Was soll denn das? Du musst mich doch über solche Sachen informieren!» Petra wirkte verbittert und wütend. Erwin verliess kopfnickend mit einem leisen «Sorry» das Büro, während Petra wieder die Augen schloss und an etwas längst Vergangenes dachte. Etwas, das sie schon lange aus ihrem Gedächtnis versuchte zu löschen, was ihr aber nicht gelang, nie gelingen würde.
Petra musste so etwa sechzehn, siebzehn Jahre alt gewesen sein. Sie lebte zusammen mit ihrer Schwester Anita und ihren Eltern in Baden. Ihr Vater Josef war ein leitender Angestellter in der damaligen BBC. Es war gerade zu jener Zeit als die BBC mit der schwedischen ASEA fusionierte, daraus resultierte dann der neue ABB-Konzern. Petras Mutter Therese arbeitete als Sekundarlehrerin in Wettingen. Petra stammte also aus einem sogenannt guten, beinahe schon perfekten Elternhaus. Doch wie es halt oft so ist, mussten Anita und Petra auch Entbehrungen in Kauf nehmen, denn ihre Eltern hatten nicht so viel Zeit für sie, wie sich dies die Kinder von ihnen wünschten. Eventuell war es aber auch so, dass die Eltern Zeit gehabt hätten, wenn sie denn nur wollten. So zumindest kam es Petra leider oft vor.
Anita war drei Jahre älter als Petra und studierte in Bern an der Uni Biochemie und Molekularbiologie. Während der Woche wohnte Anita mit drei Studienkolleginnen in einer WG an der Gerichtsgasse in Bern. Lediglich die Wochenenden verbrachte sie in Baden. Zunächst fiel Petra die Veränderung von Anita gar nicht auf. Doch irgendwann schien es ihr, dass Anita immer nervöser und unkonzentrierter wurde, sich immer mehr auf Freundschaften auch mit dubiosen Gestalten einliess. Eines Tages dann, als sie zusammen im Hallenbad waren, sah sie mit Erschrecken die Einstiche an ihrem Bauch.
«Hey Anita, was hast du denn da?», fragte sie entsetzt.
«Ach, das ist nichts, das ist bloss so ein komischer Hautausschlag, kommt wohl von einer Allergie. Das geht schon wieder vorbei.»
Petra fasste Anitas Hand: «Spritzt du dir etwa Drogen?»
«Lass mich doch in Ruhe», erwiderte Anita resolut. Sie riss sich von Petra los, setzte sich abrupt auf und sprang ins erfrischende Wasser, das hoch aufspritzte und wie ein Gewitterregen wieder hinunter prasselte. Petra sah ihr zu, wie sie wütend und kraftvoll einige Längen schwamm. Ausser Atem kletterte sie aus dem Schwimmbecken, liess sich neben Petra auf ihr Badetuch fallen, die zu ihr sagte: «Mach bloss keinen Scheiss, Anita!»
Anita wusste nun, dass Petra bemerkt hatte, dass sie sich Drogen spritzte, nämlich Heroin. Die ersten Versuche mit Heroin machte sie an der Silvesterparty vor etwa fünf Monaten. Sie sass mit ihren WG-Kolleginnen am Tisch, als dieser Pedro auftauchte. Pedro Alvare hiess der Uruguayer, den eine ihrer Kolleginnen, Jeanette Hugenschmidt, kannte. Anita konnte sich später noch gut an ihn erinnern. Seine Arme waren stark tätowiert, seine Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, seine Augen blickten geheimnisvoll in die Welt hinaus. Ihr schien, als wäre er aus einer anderen Welt zu ihnen gekommen. Nach einigen Caipirinhas sagte er dann: «Kommt Mädels, ich hab’ da was für euch, das macht euch so richtig schön happy, wollt ihr das ausprobieren? Wollen wir zusammen eine Reise ins unendliche und vollkommene Glück unternehmen?» Bevor sie richtig denken konnten, waren die vier jungen Frauen mit Pedro auch schon in einem Hinterhof angelangt. Als sich Anita am nächsten Tag versuchte zu erinnern, schien es ihr schwer die Zusammenhänge klar zu deuten. Es fiel ihr wieder ein, dass Pedro sagte: «Lasst uns ein Spiel machen. Wer verliert, der bekommt von mir als Trostpreis eine Spritze voller Glückseligkeit geschenkt.»
Eine Spritze, ja eine Spritze voller Glückseligkeit sagte er, er meinte natürlich eine Dosis Heroin. Sie wusste nicht mehr was geschah, sie spielten irgendein Kartenspiel, das Pedro wie von Zauberhand immer wieder gewann und die vier jungen Frauen bekamen in ihrem Alkoholrausch allesamt ihre erste Heroinspritze verpasst. Von der ersten Spritze bis zur Abhängigkeit war es dann nur ein kleiner Schritt, ein Katzensprung, wie man sagt.
Nachdem Petra ihre Drogenabhängigkeit entdeckt hatte, verbrachte Anita nur noch selten ihre Wochenenden in Baden. Sie entfremdete sich immer mehr, was ihren Eltern aber gar nicht auffiel, da sie ja so sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Petra jedoch machte sich immer mehr Sorgen und so suchte sie ihre Schwester eines Tages in Bern auf, um ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Ein Wort von Schwester zu Schwester. Sie musste mehrmals klingeln, bis Anita endlich die Türe öffnete. «Mensch Petra, was machst du denn hier? Ist etwas passiert?»
«Ich muss mit dir sprechen, unbedingt, ich mach mir ernsthafte Sorgen um dich.» Petra schritt in die Wohnung, die ihr wie eine Art moderne Müllhalde vorkam. «Sag mal, wie sieht es denn hier aus?»
«Warum?»
«Warum? Sieh dich um! Wann habt ihr denn das letzte Mal aufgeräumt?»
«Wer aufräumt, der ist nur zu faul um zu suchen», erwiderte ihre Schwester und ging ihr voraus in ihr Zimmer, in dem ein wahres Chaos herrschte. Petra musste sich mit ihren Füssen buchstäblich einen Weg durchs Zimmer freibahnen. Sie hielt den Atem an und öffnete schnell das Fenster. «Sag mal, lüftest du eigentlich nie?»
«Weshalb denn, ich hab’ genügend Luft. Bist du zu mir gekommen, um mich zu beatmen oder was?»
Petra blieb zunächst am Fenster stehen, damit es ihr durch den abgestandenen Zimmergeruch nicht doch noch übel wurde. Sie blickte ihre Schwester besorgt an, die sich inzwischen auf ihrem Bett hingelegt hatte. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie sich die ausgemergelte Anita angesehen hatte, vielleicht zehn Sekunden, vielleicht fünf Minuten. «Was willst du von mir?», brach Anita das Schweigen.
«Du hast uns schon lange nicht mehr besucht.»
«Muss ich das denn?»
«Müssen? Nein.»
«Na eben.»
Pause, eine sehr beklemmende Pause machte sich breit. Wer würde wohl als Erste den Bann brechen?
Petra setzte sich zu Anita ans Bett, das wohl schon seit Wochen keine frisch gewaschene Bettwäsche mehr gesehen hatte. Sie musste ihre aufkommenden Tränen unterdrücken, was ihr nur schwerlich gelang. «Ich weiss warum du nicht mehr kommst. Du kannst mir nichts vormachen oder mich für dumm verkaufen, du nimmst Drogen. Das ist ein ganz grosser Blödsinn, was du da machst. Eine richtige Scheisse ist das!»
«Oh, meine kleine Schwester macht mir Vorwürfe, sie will mir sagen, wie ich zu leben habe, wie ich mich verhalten muss, was ich darf und was nicht.»
«Mach dich nicht lächerlich, es ist viel zu ernst.»
Anita setzte sich auf und blickte Petra mit traurigen schmerzerfüllten Augen an: «Wissen es die Eltern?»
«Nein, ich habe ihnen nichts gesagt.» Wieder machte sich eine beängstigend lange Pause zwischen den beiden Schwestern breit. Anita sah auf den Boden und sagte, oder genauer, sie flüsterte kaum hörbar: «Danke.»
«Hier ist dein Kaffee, Petra.» Jäh wurde die Kommissarin aus ihrer tiefen Gedankenwelt herausgerissen, als Erwin mit dem bestellten, wohlriechenden Kaffee ins Büro trat. Der Duft des Fair-Trade-Kaf-fees aus Bolivien erfüllte den Raum. «Was ist los, störe ich etwa?»
«Ach nein, ich war mit meinen Gedanken nur etwas abgeschweift.»