Der Moment, der alles änderte. Julia Thurm

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Der Moment, der alles änderte - Julia Thurm

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zu mir nehmen, geschweige denn reden oder weinen. Ich sah einfach nur hinüber zu meiner Schwester, und zwar an jedem einzelnen Tag der Woche. Ich konnte nicht schlafen aus Angst, ich würde den Moment verpassen, wenn Christin aufwachte.

      Nach einer langen Woche des Wartens dachte ich, sie würde nicht mehr zu mir zurückkehren. Doch als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, wachte meine Schwester endlich auf. Sie war schwach und erschöpft, aber sie war wach und das war das Wichtigste für mich. Nach einer weiteren Woche ging es ihr deutlich besser. Ihre Schmerzen ließen nach, allerdings trug sie einen dicken Verband am linken Arm, an den Schultern, im Brustbereich und am Hals. Nachdem uns eines Tages einer der Ärzte untersucht hatte, fragte meine Schwester nach unserem Dad. Der Arzt sagte, dass er auf der Intensivstation im Koma läge. Auf die Frage, ob wir ihn besuchen könnten, reagierte er zunächst skeptisch, stimmte aber schließlich zu.

      Noch am selben Tag wollten wir ihn sehen und machten uns auf den Weg zur Intensivstation des Krankenhauses. Dad lag ebenso reglos in seinem Bett wie Christin zuvor, allerdings waren seine Verletzungen weitaus schwerwiegender.

      Nach einer Weile fragte meine Schwester den Arzt, der uns begleitet hatte, nach unserer Mom. Sie hatte bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht mitbekommen, dass diese nicht mehr unter uns weilte. Ich hatte es ihr nicht sagen können, genau genommen, hatte ich seit dem Unfall überhaupt nicht mehr gesprochen. Der Arzt versuchte, meiner Schwester schonend die Wahrheit beizubringen, doch das erwies sich als ziemlich schwierig. Es dauerte, bis die volle Bedeutung seiner Worte zu Christin durchgedrungen war, doch als sie es schließlich begriff, weinte und schluchzte sie ohne Unterlass. Ich konnte nichts für sie tun, sie war untröstlich.

      Mir hingegen war es unmöglich zu weinen. Das Einzige, was ich noch fühlte, waren Kälte und ein unendlicher Schmerz.

      Nur einen Tag später starb auch Dad an den Folgen des Unfalls. Von diesem Zeitpunkt an war nichts mehr wie vorher. Wir wären auf uns allein gestellt gewesen und in ein Heim abgeschoben worden, wenn Tante Grace nicht das Sorgerecht für uns bekommen hätte.

      Ich nahm nicht an der Beerdigung unserer Eltern teil, weil ich darum gebeten hatte. Der Schmerz war einfach zu groß für mich.

      *

      5

      Vor diesem tragischen Ereignis, das mein Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte, war es schon öfter passiert, dass ich weinte. Aber seitdem war ich wie eingefroren. Außer Aggressivität zeigte ich keine Gefühle mehr. Vielleicht, weil ich Angst hatte, erneut verletzt zu werden.

      Nach einer Weile riss ich mich von diesen Gedanken los, da sie mich ziemlich bedrückten. Ich schaltete den Fernseher aus und ging in mein Zimmer. Als ich gerade die Treppe hochlief, öffnete sich die Haustür und Christin kam herein.

      „Schon wieder da? Du wolltest doch erst in einer Stunde kommen“, meinte ich erstaunt.

      „Eigentlich ja, aber die Firma hat mein Vorstellungsgespräch abgesagt und ich habe keine Ahnung, wieso.“ Enttäuscht die Achseln zuckend, wandte sie sich ab und ging in die Küche.

      Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schlurfte ich nach oben in mein Zimmer. Es war erst Mittag, aber ich wünschte mir sehnlichst, der Tag wäre schon vorbei.

      Als ich auf meinem Bett lag und schon fast eingeschlafen war, platzte meine Schwester ins Zimmer „Kommst du? Wir holen jetzt deine Uniform für die neue Schule.“

      Ich dachte genau das, was an dieser Stelle jeder denken würde: „Oh mein Gott, ich muss allen Ernstes eine Schuluniform tragen? Okay, jetzt ist es offiziell, der Tag ist gelaufen!“

      „Kommst du jetzt?“, drängte meine Schwester.

      Genervt und widerwillig stand ich vom Bett auf und bewegte mich nach draußen zum Auto. „Und wo fahren wir jetzt hin?“, fragte ich Christin, bevor sie den Motor anließ.

      „Das siehst du gleich“, erwiderte sie geheimnisvoll.

      Wir waren ungefähr 40 Minuten unterwegs, bis wir unser Ziel erreichten. Als ich aus dem Wagen stieg, fiel mir sofort das riesige zweistöckige Schulgebäude aus Ziegelsteinen ins Auge. Das Erste, was ich bemerkte, war die lange Rampe für Rollstuhlfahrer, die direkt neben einer Treppe nach oben zum Eingang führte. Eine Flagge der USA hing über dem schwarz-weißen Portal und den goldenen Ziffern, die die Hausnummer anzeigten: 350.

      Nachdem man das Gebäude betreten hatte, führte der Weg zu einem mit Metalldetektoren ausgestatteten Durchlass, den man passieren musste, um die Schule zu betreten, ähnlich der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Doch an diesem Tag kamen wir auch ohne Überprüfung hinein. Da ich mir unsicher war, lief ich einfach Christin hinterher. „Wow!“ Das war alles, was ich hervorbrachte, als ich die Schule von innen sah, denn sie sah aus wie ein altes Schloss. Jedes Mal, wenn man einen neuen Gang betrat, wurde man von einem Rundbogen aus Ziegelsteinen empfangen. An den Wänden hingen Auszeichnungen von Schülern, die an den verschiedensten Wettbewerben teilgenommen hatten. Der Boden war aus feinstem Parkett, die Schulspinde waren hellblau und die Nummern darauf aus Gold. Auch wenn das Gebäude komplett aus Ziegelsteinen errichtet worden war, waren die Räume hell und lichtdurchflutet.

      Doch es blieb eine entscheidende Frage offen: Wo waren die Schüler? Es war mitten in der Woche, doch kein einziger war uns bisher über den Weg gelaufen. Als ich diese Beobachtung soeben meiner Schwester mitteilen wollte, kam eine Frau auf uns zu. Sie war mit Stöckelschuhen etwa 1,60 Meter groß und bekleidet mit einem langen dunkelblauen Rock, außerdem einer hellblauen Bluse und einem dunkelblauen Jackett. Sie hatte rote kurze, auftoupierte Haare und trug passend dazu einen knallroten Lippenstift. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. „Ms Smith?“, fragte sie meine Schwester.

      „Ja, genau“, entgegnete ihr Christin.

      „Ich erwarte Sie bereits. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Wir schlossen uns der Frau an.

      Zuerst dachte ich, sie wäre die Sekretärin, aber es stellte sich heraus, dass es sich bei der kleinen rothaarigen Dame um die Rektorin handelte. Ihr Büro war genauso wie der Rest der Schule eingerichtet. Auf dem Weg dorthin zeigte sie uns ein paar Klassenräume. Die Zimmer besaßen alle sehr hohe Decken, fast so hoch wie in einer kleinen Kapelle. Auch darin war der Boden mit feinstem Parkett ausgelegt. Die Tische und Stühle, an denen die Schüler saßen, waren am Boden festgeschraubt worden. So verhinderte man wohl Diebstähle. Auf jedem Tisch stand ein Laptop, der ebenfalls fest am ... nein, im Tisch installiert war. Geld spielte hier wohl keine Rolle.

      „Bitte setzen Sie sich doch“, forderte uns die Rektorin sehr höflich auf, als wir ihr Büro erreicht hatten. Auf dem Schreibtisch stand ein goldenes Schild mit ihrem Namen: Ms Simpson.

      Dies rief in mir die Assoziation mit der Farbe Gelb hervor, aber ich wusste nicht genau, warum. Außerdem hatte ich mich schon gewundert, wieso sie sich nicht vorgestellt hatte. Aber durch das Schild hatte sich das erledigt.

      Als wir uns setzten, sagte sie zu mir: „So, du bist also Katie.“

      Christin warf mir einen Blick zu, als ob sie sagen wollte: „Sei bloß höflich!“

      Also antwortete ich lediglich: „Ja, Miss.“ Auf diese Antwort hin schenkte mir meine Schwester ein kleines, kaum wahrnehmbares Nicken. Ich wollte es diesmal wirklich nicht vermasseln.

      „Ich bin Ms Simpson“, nahm die Rektorin den Faden wieder auf.

      „Ach wirklich? Wusste

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