Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas

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Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - Carmen Thomas

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eingesandt wurden, die mir im Leben nicht eingefallen wären. Der Dreh war, das Politische im Alltäglichen zu erkennen und aufzufalten. Überhaupt der normalen Wirklichkeit in den Medien mehr Raum zu verschaffen. Das gelang nur mit der wachsenden Fähigkeit, aus jedem, wirklich jedem Thema etwas machen zu lernen.

      Bei der allerersten „Hallo Ü-Wagen“-Sendung ging es erst mal schlicht mit dem Thema „Nikolaus-Bräuche“ los und mit der Frage, inwieweit das Kinder-Täuschen dabei richtig und oder nur nett für Erwachsene ist, oder ob der Vertrauensbruch folgenreiche negative Auswirkungen auf die arglosen und vertrauensvollen Kleinen haben kann. Diese Sendung war noch meine eigene Idee. Schlicht, weil mein Start am 5.12.1974 stattfand und ich noch auf Tages-Aktualität gedrillt war.

      Danach ging es dann dramaturgisch geplant durch Themengebiete, die die Hörer-innen eingesandt hatten: Nacktsein, Vornamen, Hundekot, Karnevalsbräuche, Stillen, Drachenfliegen, Altensport, Adoption ...4 Was die Themen kennzeichnete, war, dass sie weniger auf Pressekonferenzen vorkamen, dafür aber ohne Aufhänger praktisch täglich aktuell waren. Sie brannten Menschen unter den Nägeln. Und das zuzulassen war zu der Zeit eine echte Innovation: die Wirklichkeit im Radio stattfinden lassen.

      Eine besonders hilfreiche Einsicht war, dass es sich lohnt, auch Schräges zuzulassen statt zuzumachen. Ein Praxis-Beispiel: eine Drei-Stunden-Livesendung über den Bleistift. In einer normalen Redaktion wäre selbst ein Drei-Minuten-Beitrag darüber als zu lang abgeschossen worden, nicht nur wegen des Mangels an Tagesaktualität. Denn die Tatsache, dass den Bleistift so viele Menschen alltäglich gebrauchen, war für eine normale Redaktion noch lange kein Grund für eine Sendung. Da müsste schon ein Bleistift als Mordwaffe verwendet worden sein. Doch neue Herangehensweisen schufen komplett andere und kreativere Zugänge.

      Die Konzeption für die Sendung ergab sich aus dem Redaktions-Storming mit Fragen wie: „Wo kommt der Bleistift ursprünglich her? Wer hat ihn erfunden? Wie lange gibt es ihn schon? Wo alles auf der Welt wird er verwendet? Und wo gar nicht? Was ist da drin? Wie kommt der Bleikern in das Holz? Wieso fallen die Minen nicht raus? Und wann doch? Was ist Grafit denn genau? Und wie wird es erzeugt? Welche Ersatzstoffe wurden wie und woraus und von wem wo entwickelt? Wann wurde der Drehbleistift vom wem, weshalb und wo erfunden? Welche Maße haben Bleistifte und welche Rekordhalter gibt es? Was genau ist der Unterschied zwischen Blei- und Buntstiften? Was wurde inzwischen noch alles neu entwickelt? Auf welchen Untergründen kann der Bleistift genutzt werden und worauf nicht? Welche Künstler-innen verleg(t)en sich besonders auf Bleistifte? Für welche Berufe sind Bleistifte unverzichtbar? Was ist mit den Spitzern: Methoden, Formen und Tools? Welche Nationen haben den höchsten Bleistift-Verbrauch und wieso? Und welche den geringsten? Was sind Nachteile des Bleistifts? Welche anderen Stifte bedrohen die Existenz der Bleistifte am meisten? Was wurde vor dem Bleistift benutzt? Wer kann eine Lobeshymne, wer eine Hass- und wer eine Trauerrede auf den Bleistift halten? Wie steht es um die Zukunft des Bleistiftes und um seine Kombination mit der riesigen Radiergummi-Welt?“ Und, und, und …

      Es war immer wieder überraschend, dass auch auf den ersten Blick so „trockene“ Themen wie der Bleistift so viele interessante Facetten enthalten können. Das entpuppte sich erst mal nur durchs Zulassen. Und unterstützt wurde es, als ich das MOSES-Stormen aus dem Coaching ab 1980 als ersten Schritt auch in die Redaktionsarbeit einführte: Da ich die Eskimo-Methode noch nicht erfunden hatte, wurden am Whiteboard fünf Spalten eröffnet mit den Überschriften: Mensch – Ort – Sachthemen – Ereignisse – Sinnliches (also sehen, hören, schmecken, riechen, tasten). Auf Zuruf wurden dann chaotisch zu jeder Sparte getrennt Einfälle gesammelt und entweder von Inge, der Aufnahmeleiterin mit der schönen Schrift, oder rotierend pro Spalte notiert. Danach wurden von jeder Person ein bis drei Einfälle schlicht nach Bauch-Gefallen notiert und geordnet. Und zack, entstand in maximal 30 Minuten ein erstes Konzept der Sendung, aus der Gruppen-Klugheit von allen gleichermaßen gespeist.

      Für mich gibt es keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr, sondern nur langweilige Arten, auf Menschen und Dinge zuzugehen.

      Mit zwei bedeutenden Erkenntnissen: Für mich gibt es seither keine langweiligen Themen und keine langweiligen Menschen mehr, sondern nur langweilige Arten, auf Menschen und Dinge zuzugehen. Es braucht dazu nur Neugier, Offenheit und passendes Handwerkszeug. Egal, welches Thema, ob Saucieren oder Läuse, Langeweile, Landstreicher oder was auch immer: Wenn Themen und Einfälle jeder Art zugelassen werden, wird alles möglich. Und je mehr Sendezeit, umso informativer, facettenreicher und spannender wurde es. Die zweite bedeutende Erkenntnis ist die für mich zunächst verblüffende Einsicht, dass Struktur der Beginn von Freiheit, Kreativität, Mut und Sicherheit ist und nicht das Ende.

      Meine vorherige Haltung, mal alles ganz locker anzugehen, mal zu gucken, was passiert, führte – Grusel – zu Chaos, Ergebnislosigkeit, Fehlentwicklungen, Unsicherheit und insgesamt eher Unangenehmem. Das Strukturlose brachte eine hochgradig unprofessionelle Abhängigkeit von Tagesform, Antipathie, Sympathie, Hierarchie, Ambiente, Nebenschauplätzen, Entwicklungsstand des Gegenübers … also von viel zu vielen Variablen. Struktur gab und gibt mir die Sicherheit eines Geländers, das ich auch loslassen, an dem ich vor- und zurückgehen und runterrutschen kann. Vor allem schafft es Klarheit, wo es wie langgeht. Und deshalb kann dann alle Kraft in die Tiefe des Was fließen – gerade, weil das Wie glasklar ist.

      Zu Schlüsselerlebnissen habe ich ein ganz besonderes Verhältnis. Mein Leben ist voll davon. Ich sammele sie geradezu. Deshalb freute ich mich über die Publikums-Anregung, mal eine Sendung über „Situationen zum schnelleren Begreifen“ zu machen. Da war die Chance groß, dass viele Menschen erkenntnisreiche Geschichten über ihre Schlüsselerlebnisse teilen könnten. Herrlich. Also wurde eine Sendung unter dem Titel: „Und plötzlich macht es klick – Schlüsselerlebnisse“ geplant.

      Wo diese Sendung am besten ansiedeln? Die Publikumsbefragung ergab: Schlüsselburg in Ostwestfalen. Ja, ist das nicht wunderbar, dachten alle.

      Ich sehe mich noch heute da stehen und mich zwei Stunden lang darüber wundern, dass ausschließlich Geschichten von verlorenen und wieder aufgetauchten Schlüsseln erzählt wurden. Mir schwoll der Hals, aber warum und was da eigentlich passierte, das hinterfragte ich nicht. Erst gegen Ende der Sendung wurde es mir klar: Ich mit meiner klaren Vorstellung von Schlüsselerlebnissen hatte einfach die ganze Zeit nicht kapiert, dass der Schlüsselburger als solcher – und die Schlüsselburgerin auch – durch das Stadtwappen und tausend Schlüssel-Anspielungen in Straßen und Kneipen geprägt, den Begriff im übertragenen Sinne überhaupt nicht präsent hatte. Für diese Bürger-innen war ein Schlüssel ein Schlüssel und fertig.

      Das bedeutete, die Sendung hatte ein wunderbar gedachtes Thema – aber das konnte dort niemand nachvollziehen. Ich spürte zwar, wie ich angesichts dieser Entwicklung reaktant wurde, nutzte das Gefühl aber viel zu lange nicht; das Team im Hintergrund, die Expertinnen und Experten auch nicht. Alle waren ebenso betriebsblind wie ich und schüttelten die Köpfe über all die zum Teil hochdramatischen Schlüssel-verlier-und-wieder-auftauch-Geschichten.

      Im Nachgang dieser Sendung ging mir im wahrsten Sinn des Wortes ein Licht auf: Tatsächlich funktionieren Kommunikation und Kreativität wie der Umgang mit Licht. Das bloße Auge sieht immer nur weiß. Wenn ich jedoch das richtige Werkzeug habe, nämlich ein Prisma, und weiß, wie es im Licht zu drehen ist, erscheint immer das ganze Spektrum der Regenbogenfarben.

      Kommunikation und Kreativität funktionieren wie der Umgang mit Licht. Das bloße Auge sieht immer nur weiß. Wenn ich jedoch das richtige Werkzeug habe, nämlich ein Prisma, erscheint immer das ganze Spektrum der Regenbogenfarben.

      In meinem Fall war das „Prisma“ eine möglichst geschliffene professionelle Ausrüstung in Form von Fähigkeiten,

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