Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen. Carmen Thomas

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Reaktanz - Blindwiderstand erkennen und umnutzen - Carmen Thomas

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dass das auch dann geschieht, wenn diese Person der Uhr vorab die höchste Punktzahl gegeben hätte. Der Blindwiderstand hat dafür gesorgt, dass die Person nicht mehr ihrer eigenen Meinung ist. Und wenn die zweite Person bereits ins übertriebene Schwärmen oder Ablehnen geraten wäre, dann wären bereits Nr. 3 oder 4 in die Reaktanz-Falle geraten.

      In diesem Beispiel liegt die Chance, die Gruppendynamik so durchschauen zu lernen, dass die Gesetzmäßigkeit aktiv umnutzbar wird. Das koaktionelle Kippen zeigt vor allem das erstaunliche Phänomen, dass Menschen in einer Gruppe quasi unfreiwillig zum Balancieren und Komplettieren des Yin-Yangs verführt werden können – bis hin zu dem Punkt, dass sie nicht mehr ihrer eigenen Meinung sind.

      Wer beide Sorten von Reaktanz verstehen und umnutzen lernt, erhält damit zwei Werkzeuge, um bewusst eine bessere Umgangs-Kultur zu erzeugen.

      Die Einsicht um das Kippen des fünften Menschen half nicht nur mir. Kürzlich erzählte mir zum Beispiel ein bekannter Wirtschaftsboss, der längere Zeit im Coaching war: „Früher bin ich, sobald mein Hals schwoll, immer sofort reingegangen und hab draufgehauen, nach dem Motto: ‚Wehret den Anfängen‘. Jetzt lehne ich mich in allen Gremien zurück, zähle gemütlich bis fünf, höre hin, verstehe meistens sofort oder frage freundlich nach. Ich sehe, dass mich alle erstaunt anschauen und sich fragen: ‚Was nimmt er wohl seit einiger Zeit?‘“

      Für mich bedeutet jedes Erlebnis mit Einzelnen und mit Gruppen stets, die Reaktanz immer besser verstehen zu lernen. Deshalb kann ich heute viel gelassener reagieren. Denn ich begreife reaktante Äußerungen und Verhaltensweisen nicht mehr als individuelle Fiesheiten, sondern als ungeplanten Hinweis darauf, dass die innere oder äußere (Entscheidungs-)Freiheit bedroht wird. Die Auslöser sind oft ganz filigran: ein reaktanziger Tonfall kann ausreichen, und schon wird das Gegenüber verwunderlich-reizbar und blockierend. Wer an das Zusammenleben mit pubertierenden Teenagern denkt, merkt: Das kann ein einziges Reaktanz-Minenfeld sein.

      Eins ist für mich inzwischen verständlicher: Reaktanz ist einer der Hauptgründe, weshalb Menschen und Gruppen neue Ideen oder Anregungen nicht sofort begeistert begrüßen und annehmen können, sondern gerade Innovatives standardmäßig ablehnen. Das ist an sich ja eher lästig und verkomplizierend. Auf jeden Fall wirkt es auf den ersten Blick nicht sonderlich nützlich oder hilfreich.

      In über 50 Jahren als Radio-, TV- und Veranstaltungs-Moderatorin, als Trainerin und Coach für Gruppen jeder Art und Größe ist mir die Reaktanz in all ihren Ausdrucksformen und Möglichkeiten vieltausendfach begegnet. Mit der Zeit erfuhr ich immer mehr, dass sie nicht nur eine tumbe neanderthalermäßige Bockigkeits-Reaktion ist. Vielmehr lernte ich den Blindwiderstand immer mehr als eine bedeutsame Hilfe zur Veränderung zu schätzen.

      Im Laufe der Jahre zeichneten sich aus vielen herausfordernden Situationen vier Reaktanz-Bereiche ab:

      1. Ein Frühwarn-System aus der Steinzeit, eine Art „Fremdel-Gen“, das seine Berechtigung hat. Denn Hegel hat ja recht: „Man erkennt nur, was man kennt.“ Die Reaktanz-Gefühle heißen: Vorsicht, kann potenziell gefährlich sein. Ein weiser Grund, weshalb Menschen allem Neuen und Fremden erst mal widerständig begegnen (Beispiel: Ekel vor mit Lebensmittelfarbe grün gefärbter Milch oder vor Protein-Riegeln aus Grillen).

      2. Ein Gerechtigkeits-Sensor. Menschen reagieren ablehnend, wenn ihr „Paritäts-Bedürfnis“ gestört wird: das „Balance-Gen“. Es möchte quasi magnetisch für die Wiederherstellung des Gleichgewichts sorgen (Beispiel: Mitleid im TV mit einem drangsalierten, politisch komplett Andersdenkenden, der eigentlich unter „unsympathisch“ rangiert).

      3. Ein Autonomie-Gespür, das mit reaktanten Verwerfungen darauf reagiert, wenn jemand in seiner Entscheidungsfreiheit beschnitten oder beraubt wird. Das „Freiheits-Gen“ will sowohl die horizontale wie auch die vertikale Balance von unten nach oben wahren (Beispiel auf Augenhöhe: innerer Widerstand bei emotionalen Bevormundungen wie: „Der Film ist der beste, den ich je gesehen habe. Der wird dir mega gefallen!!!“). Und vertikal passiert das auch, wenn die Einschränkungs-Gefühle „nur“ emotional und vielleicht sogar unberechtigt sind. (Beispiel: Widerwillen beim durchaus sinnvollen Einweisen durch Parkwächter-innen).

      4. Ein angeborenes Harmonie-Streben, das „Friedens-Gen“, das Menschen bei Streit, Mobbing und Gewalt trotz Angst zum Eingreifen bewegen und mutig machen kann. Reaktante Gefühle zeigen an, wenn Harmonie und Freiheit so gestört werden, dass eine Änderung nötig ist (Beispiel: Einschreit-Impuls als Zeuge oder Zeugin bei unfairen oder rassistischen Äußerungen in der Bahn).

      ZEIT-Kolumnist Harald Martenstein bringt es auf den Punkt: „Reaktanz ist gut, weil sie eine Einheitsgesellschaft mit Einheitsmeinungen verhindert. Reaktanz ist der Beweis dafür, dass wir zur Freiheit geboren sind. (...) Ohne Reaktanz würden wir uns alle nach und nach in Gemüse verwandeln. Ohne Reaktanz läuft ‚Demokratie‘ auf eine massenpsychologische Zwangsherrschaft des Einheitsdenkens hinaus. Reaktanz ist die Kraft, die dafür sorgt, dass ein Meinungspendel nach einer gewissen Zeit wieder zurückschwingt. (…) Reaktanz ist politisch. Reaktanz führt dazu, dass Verbote sich, langfristig gesehen, nicht lohnen3.“

      „Reaktanz ist der Beweis dafür, dass wir zur Freiheit geboren sind.“

      Fakt ist für mich: Je mehr ich mich mit ihr befasse, desto mehr staune ich darüber, was die Reaktanz für eine starke und unterstützende Kraft ist. Wie eine Art emotionales Trüffelschwein, das ja auch „blind“ schon über der Oberfläche die Trüffel schnüffeln kann, erspürt sie treffsicher, wenn das innere Gleichgewicht, die Balance und die Harmonie in einer Angelegenheit, in einer Beziehung oder in Gruppen bedroht sind. Dieses angeborene „steinzeitliche“ Frühwarnsystem kann dabei helfen, das innere und äußere Gleichgewicht zu wahren oder wiederherzustellen. Mit der Reaktanz als Gerechtigkeitssensor lässt sich ein inneres Gespür für das richtige Maß und für die Wahrung der Freiheit finden. Wer reaktantes Verhalten als hilfreichen Impuls begreift und Methoden zum Vermindern hat, kann knifflige Situationen, den Umgang miteinander, das Betriebsklima in der Tiefe verbessern.

      Früher konnte ich Menschen, die sich reaktant verhielten, nicht besonders leiden. Sie störten mich richtig. Verwundert dachte ich: „Der/die war doch bisher ganz vernünftig. Und jetzt schießt er/sie auf einmal so quer! Wenn der oder die doch bloß nicht in der Gruppe wäre!“

      Das vorhin geschilderte gelassene Bis-fünf-Zählen ist heute mein erster Schritt. Es lohnt sich auch zu beobachten, ob diese Person die Balance selbst wiederherstellt oder ob sie’s noch eins weitergibt. Und hin- und dahinterzuhören, mit welchen Argumenten sie es tut. Denn die Reaktanz berät mich immer treffsicher dort, wo ein emotionaler Reibungspunkt von mir oder anderen übersehen wurde. Reaktantes Verhalten zeigt stets an, wo in einem Gespräch oder in einer Gruppe unbewusst eine emotionale Hürde entstanden ist, durch die das Gleichgewicht zu kippen droht. Und da der Blindwiderstand so gesetzmäßig auftritt, ist er auch so überraschend leicht kalkulierbar.

      Wer Reaktanz bei sich selbst und anderen zu erkennen weiß, kann sie umnutzen lernen, um so das Gleichgewicht sofort auf produktive und entstressende Weise wiederherzustellen.

      Wer Reaktanz bei sich selbst und anderen zu erkennen weiß, kann sie umnutzen lernen, um so das Gleichgewicht sofort auf produktive und entstressende Weise wiederherzustellen.

      Das wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu meiner Leidenschaft: die Klugheit und Kreativität von Einzelnen und von Gruppen aktivieren und Haupt-Reaktanz-Auslösern methodisch begegnen – mit entstressenden Spielregeln, mit fein geschliffenen Code-Sätzen und mit handfesten Tools.

      Und je besser ich lernte, den Blindwiderstand umzunutzen, desto mehr erwies sich die Reaktanz als ein segensreiches Instrument. Was mir daran besonders gefällt: Ein kluger Umgang mit Reaktanz kann dabei helfen, mehr Fairness, mehr Gerechtigkeit und mehr

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