Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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Die Massen, wie er sie gerne nannte.

      In den blauen Schatten des Cafés fand James einen freien Stuhl mit dem Rücken zum Fenster. Er fühlte sich leicht krank. Er fühlte sich unglaubwürdig. Ein Kellner mit einer Haut wie Bimsstein und einem strähnigen Pferdeschwanz nahm seine Bestellung professionell cool entgegen und entschwand anschließend wieder. Auch er gehörte zu der Geheimgesellschaft, ein kriecherischer Mitläufer. Mit dem Klappern von Besteck und dem Klirren der Teetassen, dem infernalischen Getöse der Kaffeemaschine und dem Brüllen des Milchschäumers schwoll auch das Gewirr der Stimmen an. Was aber war es darüber hinaus? Der Sommer aus Vivaldis Vier Jahreszeiten dudelte vor sich hin. Wie er das hasste: wenn Musik nebensächlich im Hintergrund lief.

      Als sein Espresso mit einem Glas Wasser eintraf, schluckte James eine Xanax, würgte seinen Kummer herunter. Chemie, dachte er, um fehlgeleitete Chemie zu korrigieren. Neural künstlich, in biochemisch ausgezeichnetem Zustand, dem abgespannten, kranken Körper so etwas wie Selbstheilung abringen. Vielleicht würde er in einen Spiegel sehen und über seine Wiederherstellung staunen. Noch könnte er sich erholen.

      Jedes Geräusch war wie verstärkt; das Café war alles andere als ein Rückzugsort. Der Lärm hallte von den gläsernen Wänden wider. Ein Ständer mit abgegriffenen Zeitschriften, von denen ihm glatte Gesichter mit Schmollmündern entgegenblickten, lehnte an der Wand und lud die Gäste zum trägen Durchblättern ein. Ringsum sah James Abfall – eine Serviette zerknüllt zu einer aufblühenden Kugel, Ringe von Getränkedosen, ein Schokoriegelpapier, gefaltet wie Origami, aufgerissene Zuckertütchen, Essensabfälle, die Kleinigkeiten aus gekauftem Krempel, die Menschen überall zurücklassen, mit denen sie, wie im Märchen, eine Spur aus Müll legen, um später in einem sagenumwobenen finsteren Wald gefunden zu werden.

      Jemand hatte eine winzige Pyramide aus Zucker auf dem Tisch aufgeschüttet. James presste sie mit seinem Zeigefinger platt und dachte, er würde gleich aufschluchzen.

      Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden. Eines seiner Lieblingszitate. Karl Marx. 1852.

      Sogar der Kaffee war bitter.

      Pei Xing war schon oft hier gewesen, aber sie liebte die Bahn, die hoch oben durch das eiserne Gerüst ratterte, das der alten Waibaidu-Brücke ähnelte, das Gedränge der Massen und den wiederhallenden Lärm der Menschen, die zum Kai hinuntergingen. Westliche Menschen fühlten sich, das hatte sie gehört, in großen Menschenansammlungen einsam; dabei schien das so falsch zu sein, denn gerade dort gab es eine Vitalität, ein Chi, zwischen all den Körpern, einen kollektiven Geist, eine Verschlingung. Die Rempeleien, die Berührungen, das Volk in Bewegung zu erleben, das war etwas Wunderschönes. Niemand sah sie, das wusste sie; sie war eine unscheinbare grauhaarige Frau und obendrein noch Asiatin.

      Ching-chang-chong. Chinesen sehen doch alle gleich aus.

      Ihre Eltern hätten es nicht verstanden: dass sie in Australien lebt, hier zu Hause ist.

      Pei Xing bog mit den anderen um die Ecke und fuhr die Rolltreppe hinunter. Vor ihr stand ein junger Mann, der seine kleine Tochter führte. Er hielt ihre Hand hoch und schob sie vorwärts.

      »Achtung jetzt, Schatz.« Das Kind setzte seine Füße vorsichtig auf die bewegliche Treppe, behielt sie bis ganz unten im Blick, als fürchtete sie auszurutschen. Sie war hübsch, ihre Haare auf chinesische Art in zwei geflochtene Zöpfe geteilt, ihr Gesicht strahlte vor Vorfreude und Aufregung. Pei Xing glaubte, sie käme vielleicht vom Land und würde all dies zum ersten Mal sehen. Ihre Bewegungen hatten etwas Zaghaftes und ganz und gar Unschuldiges.

      Das reine Herz des Bauern.

      Es hätten die geschmeidig wogenden Bewegungen eines Drachen sein können, diese Gestalten, die auf der Rolltreppe herunterglitten, wie ein einziges Wesen sehnig und leicht zuckend durch den Tunnel ins grelle Licht dem Wasser entgegenströmten.

      Am Kai kaufte sich Pei Xing ein Eis bei ihrem Freund Aristos. Sie kannten sich schon lange, und auch deshalb kehrte sie immer wieder gerne zum Kai zurück, um ein paar Sätze mit dem alten Mann hinter dem Tresen zu wechseln. Er war zur selben Zeit nach Sydney gekommen wie sie, irgendwann Ende der Achtziger.

      »Hey, Chinablume!«

      »Hey, alter Fischer!«

      »Immer noch so mager, Chinablume.«

      »Immer noch zu dick!«

      Der alte Fischer lachte. Das war ihr Ritual, ihre Sprache der Verbundenheit.

      Aristos schabte eine Kugel ihrer Lieblingssorte – Haselnuss – und drückte das Eis mit dem Löffelrücken zu einer ungleichmäßigen Form zusammen. Wie immer weigerte er sich, Geld von ihr anzunehmen, hielt sie aber zum Plaudern auf. Sein Rücken schmerze wieder, sagte er, und die Arthritis habe sich auch wieder gemeldet. Voula wolle ihn immer noch zu einer Reise in die Heimat überreden, die er sich nicht leisten konnte. Eleni erwartete sein erstes Enkelkind, Gott sei’s gelobt. Und Dimitris, dieser Tunichtgut, trank immer noch zu viel.

      Im Gegenzug erzählte Pei Xing, dass Jimmy beruflich nach wie vor recht erfolgreich war, ein braver Junge, er strengte sich sehr an. Ein treuer Sohn. Seine Freundin aus Hongkong, Cindy, war eine ganz reizende junge Frau.

      Als Pei Xing über den Tresen blickte, sah sie die Zukunft. Aristos wirkte verletzlich. Der Tod kam auf ihn zu. In einem kurzen Moment sah sie ihn: graue Schwingen, eine fedrige Präsenz, die über Aristos’ müdem erröteten Gesicht schwebte. Sie sah seine Augen sich sanft schließen, wie in Zeitlupe, dann ging das weiche lebhafte Gesicht in eine harte starre Maske über. Sie hörte ihn einen Atemzug ausstoßen, den zarten Hauch, der dieses Leben vom nächsten trennt. Und in derselben halben Sekunde sah sie auch, wie sehr er geschuftet und gelitten hatte und dass er jetzt zum unabwendbaren Sterben überging.

      Es gibt Dinge, die man weiß, aber niemals sagen kann. Es gibt plötzliche Intuitionen, unfehlbar, und man kann nur den Kopf vor dem Schicksal neigen und vernünftigerweise schweigen. Das Fleisch schmolz immer schon, die Zeit wurde ständig ausgehöhlt. Die Geschichte der Völker und der langsame Abwärtssog. Trotz all dem, der Eiscreme, der Menschenmenge, dem herrlichen Sommertag, war keine Seele vor plötzlicher Auslöschung gefeit, das wusste Pei Xing. Aristos hielt inne und schloss den Mund, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er lächelte, wenn auch traurig. »Ach! Was soll man machen?«, sagte er und zuckte übertrieben melancholisch mit den Schultern, fuchtelte mit seinem Löffel, blickte zum Himmel hinauf und zeigte an, dass alles, was er vor sich hatte, in Frage stand, die Eiscreme, die Menge, der herrliche Sommertag.

      Pei Xing betrachtete die bunte Reihe der Behälter vor sich. Sie trugen wunderschöne Bezeichnungen: nocciola, limone, bacio, fragola.

      »Du gibst den Menschen zu essen«, sagte sie leise. »Das ist gut. Menschen zu ernähren.«

      Es war die einzige Segnung, die sie aufbringen konnte, eine kleine Anerkennung seiner Tätigkeit. Sie wollte einfach nur ihr Mitgefühl zeigen und ihm sagen, dass sie es wusste. Sein faltiges Gesicht verzog sich. Seine Augen wurden feucht. Auch er wusste es, das wurde ihr jetzt klar. Ah, er wusste es.

      Pei Xing sagte Auf Wiedersehen, vielleicht zum letzten Mal, und ging langsam davon, bemühte sich, die Vision nicht zu verdichten oder voreilig zu trauern. Aristos winkte, sah dabei aus wie ein griechisch-orthodoxer Priester. Seine zum Himmel hin geöffnete Hand hing einige Sekunden lang in der Luft. Er hätte ein Ikonenheiliger sein können, bereits vor langer Zeit.

      Es war Pei Xings Schicksal, Dinge

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