Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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und an die Spüle ging, erinnerte sie sich mit einem Gefühl der innigen Verbundenheit an James und Miss Morrison. James hatte im Unterricht Nasenbluten bekommen und Miss Morrison hatte ihm den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, ihre linke Hand ruhte dabei auf seiner Stirn, in der rechten hielt sie ein Tuch, vollgesogen und rot, und presste es ihm unter die Nase. Eine Art lebendiges Gemälde: Die Lehrerin beflissen, bestimmt, übernahm die Kontrolle über den Körper des Kindes; der Junge war mürrisch, aber gefügig, verlegen wegen seiner blutenden Nase und seiner öffentlichen Unterwerfung. Miss Morrison zwang ihn nieder, hielt ihn dort, und seine Klassenkameraden sahen böswillig fasziniert zu. Ellie hatte etwas sagen oder Krankenschwester sein wollen, hätte ihm am liebsten selbst die Hände aufs Gesicht gelegt, feuchtkalt und liebevoll, aber stattdessen saß sie auf ihrem Platz und sah wie alle anderen zu, bedauerte ihn stillschweigend.

      James hatte oft Nasenbluten. Es gehörte zu den Beschwerden, die Begabte ereilen, die sie den anderen scheinbar gleichmachen, verletzlich und alltäglich. James gewöhnte sich an, immer ein paar Taschentücher dabeizuhaben und schon beim allerersten Anzeichen von Blut das Klassenzimmer zu verlassen. Ellie hatte ängstlich Mitleid empfunden; der Junge, sonst der Star der Klasse, ein intellektueller Überflieger, stand in einer feuchten verborgenen Ecke, und das Blut floss nur so aus ihm heraus, der Kopf war nach oben gerichtet, Flüssigkeit lief ihm in die Kehle, und im Mund hatte er den Geschmack von etwas Saurem und Innerem wie dem Tod. Wenn James danach ins Klassenzimmer zurückkehrte, blickte er niemandem ins Gesicht, nahm aber seine besserwisserische, rotzfreche Haltung ein, gab mit seiner Belesenheit an und stellte geistreich seine Freunde bloß. Miss Morrison war gereizt – Ellie merkte es ihr an –, bewahrte sich aber ihre distanzierte Zuneigung, die schlaue Kinder hervorrufen. Kaum war da ein vulgärer Blutfleck auf James’ kariertem Hemd, konnte keinerlei Tollkühnheit ihn zum Verschwinden bringen, James’ Macht wieder herstellen.

      Und nun war da Miss Morrison, die ihn in ihren Armen wiegte, ihm wie eine Mutter den Kopf hielt. James hatte das benommene, verlassene Aussehen eines Kindes, das schwach oder kurz vor der Ohnmacht war, unwillentlich innerlich zusammenfiel, schlaff und nachgiebig wurde wie eine Pflanze. Es war eine Vision, die sie wie ein Fresko verband, patiniert und mit altersbedingten Rissen ließ es seine Bedeutung durch die Zeit hindurch strahlen wie unter dem Bogen einer italienischen Kirche hindurch. Ellie widerstand dem Wort pietá, aber es war dennoch präsent und verlieh einem letztlich doch sehr gewöhnlichen Missgeschick Würde.

      Miss Morrison sah wunderschön aus, auf die Art, wie Zärtlichkeit schön macht, eine Art äußeres Anzeichen für den weichen Fall, den sie ihm bereitete. Ellie wunderte sich darüber, dass sie auf diese Weise an ihre Lehrerin dachte, fand ihre Kindheit im Rückblick voll eben jener Zärtlichkeit, die sie vermisste, an die sie sich erinnern wollte und die sie gefunden hatte, als sie mit der Schläfrigkeit, die einer entspannten postkoitalen Zuversicht vorausgeht, in die Arme eines Mannes rollte. Ihr ehemaliger Geliebter war ein sanfter Mensch, und sie träumte immer noch von ihm, wollte ihn. Die Sache war nicht zu Ende. Und ihr Begehren hörte nicht auf. Wahre Gefühle lassen sich nicht abschließen; so viel wusste sie.

      Ausfindig gemacht hatte James Ellie durch eine gemeinsame Freundin, die eine kleine Lifestyle-Kolumne in einer Tageszeitung schrieb. Ellie hatte ihn nicht mehr gesehen, ungefähr seit sie fünfzehn waren, und war neugierig, weshalb James sich nun aus heiterem Himmel mit ihr treffen wollte.

      Er war ein gut aussehender Junge gewesen, groß – einer jener Highschool-Schüler, denen der spätere Erfolg sicher war –, aber sie hatte auch den James gekannt, der eine Straßenecke weiter wohnte, das einzige Kind einer vom Vater verlassenen Mutter. Er war der Junge, der allein Fahrrad fuhr und scheinbar keine Freunde hatte. Sie erinnerte sich, wie er in der körnigen Lavendeldämmerung die Straße auf und ab radelte, auf dem Hinterrad fuhr, Staub aufwirbelte und, als es dunkel wurde, wieder verschwand. Die Gestalt eines Jungen. Eine einsame Gestalt. Selbst da sah sie eine stumme Gequältheit in seiner monotonen Routine, im bedeutungslosen Schlittern über den Kies.

      Manchmal hörte sie seine Mutter James rufen; sie rief ihn zum Essen, bestand auf seiner Gesellschaft, sie sprach Italienisch, um ihren Sohn an ihre Seite zurückzuholen. Manchmal nahm das Rufen kein Ende. Ellie wusste, wo sich James versteckte, wenn er nicht entdeckt werden wollte, hätte es aber niemals verraten; das gehörte zu ihrem Pakt. In dem schmalen Spalt zwischen Schulende und Abendbrot, in dem sich die Kinder erholen oder einen Ort abseits der Enge eines Schreibtischs und allgemeiner Vorschriften fanden, kehrte James in ihr Versteck zurück, wo er ungestört und selbstbeherrscht sein konnte, wenn er nicht gerade Fahrrad fuhr.

      Erwachsene unterschätzen das Maß an Einsamkeit, das nötig ist, um dem Schulleben etwas entgegenzusetzen. Ganze Generationen von Schulkindern sehnen sich danach, in Ruhe gelassen zu werden. Überall. Millionen. Einfach nur in Ruhe gelassen zu werden. Um in launischem Lärm oder in Stille die Zuflucht zu finden, die ihnen abhanden kam.

      Zwischen Spott und Meisterschaft fand James seinen eigenen Weg, und als er am Ende der zehnten Klasse ein Stipendium an einer Jungenschule in der Stadt bekam, wunderte sich niemand, dass er wegging. Seine Mutter war stolz und zu Tode betrübt. Ellie sah sie ein beschränktes Leben leben, gegen Ende des Tages lauerte sie stets im Morgenmantel unweit des Briefkastens. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen oder den Tag von der Nacht zu trennen. Ihr Gesicht wirkte völlig erschöpft und ihr Gebaren unstet; ihr verfilztes Haar stand um ihr trauriges, fast puppenartiges Gesicht ab. Sie hatte sich eine Geste des Bindens und Lösens ihres Gürtels angewöhnt, sodass ihre Hände ständig eilig agierten und nicht stillhalten konnten. Sie redete auf Italienisch mit sich selbst, unterstrich ihren Ausländerstatus, erklärte allen, sie sei in ihr Geburtsland zurückgekehrt und nun dort eingeschlossen, allein, durch Worte andernorts gebunden. Die Leute tratschten, verachteten oder bemitleideten sie auf meist stumpfe und wenig hilfreiche Weise, nahmen ihre Hände, sodass sie allein wegen der menschlichen Berührung in Tränen ausbrach, stellten ihr Essen auf die Veranda, das zu essen sie sich allerdings weigerte. Der Verein der Landfrauen versuchte, sie in Einkaufsausflüge und soziale Aktivitäten einzubeziehen. Wie Ellie gehört hatte, wurde am Schluss dem Amt lediglich mitgeteilt: Die Frau sei eine Gefahr für sich selbst.

      Eines Tages war James’ Mutter nicht mehr da. Ellie wartete und beobachtete, aber Mrs DeMello kehrte nicht zurück. Ellie starrte den Briefkasten an, so wie sie seine Besitzerin angestarrt hatte, und spürte, dass es einen heimlichen Beschluss gegeben haben musste.

      »Klapse«, sagten die Nachbarn. »Die haben sie in die Klapse gesteckt.«

      Und Ellie stellte sich einen stummen, verzweifelten Ort vor, voller Menschen, die auf dieselbe Art beraubt waren wie Mrs DeMello, deren Gesichter sich nervös hinter vergitterten Fenstern aneinanderreihten, die Augen krank aufgrund des Verrats.

      Ellie wünschte, sie hätte geantwortet, als Mrs DeMello ihren Sohn in der Abenddämmerung gerufen hatte. Inzwischen wusste sie, was es bedeutet, wenn ein Rufen unbeantwortet bleibt und die eigene Stimme nicht so schallt, wie sie soll. Und Teil des Unglücks dieser Frau war zu wissen, dass auch James sie verlassen hatte, erschrocken über die eigenen Enthüllungen und ihre gemeinsame Intimität.

      Obwohl Ellie James vermisste, konnte sie niemandem davon erzählen. Es gab keine Zusammenfassung der Schnittstellen zweier junger Leben, oder dessen, was sie taten, oder wo sie sich versteckten. Nachdem er sich in die vornehme Schule verabschiedet hatte, schrieb James nie, nahm keinen Kontakt auf. Er war einfach weg. Auch beantwortete er keine Briefe oder kam zu Besuch nach Hause. Erst als er ein Universitätsstipendium erhielt, begriffen sie das Ausmaß seines Erfolgs und der öffentlichen Wirksamkeit seines glanzvollen Lebens. Ellies Eltern lasen ihr den Artikel aus der Lokalzeitung am Telefon vor, aber da lebte Ellie bereits selbst in der Stadt, besuchte die Universität und führte ein anderes Leben. Sie widerstand so weit wie möglich dem Bemühen, ihn sich anderswo vorzustellen.

      In ihrer Wohnung blickte Ellie vom Tisch auf. Ein hoher Baum schuf draußen vor dem Fenster die Illusion eines an der Wand hin und her schwingenden Lichts. Das war ihr zuvor nicht aufgefallen, dass

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