Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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Siebdruck und die feuchten Bögen, die Regelmäßigkeit der Kopien und der Umstand, dass sie Wohnzimmer und Schlafzimmer auskleideten. Er hätte ewig so weitermachen können, Oberflächen mit Tapeten versehen, immer und immer wieder dasselbe Bild drucken.

      Später, als Magritte Künstler in Paris war und seine Vergangenheit neu erfand, behauptete jemand, seine verstörendsten Gemälde zeigten Figuren, deren Augen verbunden oder mit Stoff bedeckt seien, und damals wusste er – als würde er auf eine Anschuldigung reagieren –, dass er seine Mutter verwandelt hatte, dass er sie zu Kunst gemacht hatte und alles Tiefverborgene als eine weitere Wiederholung wiedergeboren wurde.

      James hielt auf der geschäftigen Straße inne, sah sich um, wirkte verloren. Sydney, Samstagmorgens. Januar. George Street. Warum dachte er nach all den Jahren jetzt wieder an Magritte? Warum kam ihm die Geschichte von Adeline in der Erinnerung an seine eigene so ähnlich vor?

      Da waren Einkaufende, die in die Kaufhäuser eilten, und ein breitgefächerter Trubel. Die auf den Kai zufahrenden Busse dröhnten wie Donner. Autos strahlten in der Helligkeit des Morgens. James war sich der Hartnäckigkeit der Massen bewusst, die auf ein sommerliches Schnäppchen aus waren, er sah, wie sie sich in kraftvollen Strömen und brechenden Wellen weiterbewegten, nahm wahr, welche Möglichkeiten des Verbergens sie boten, der Auflösung des Selbst, das wahnsinnige Gefühl, in einen beweglichen Organismus eingesogen zu werden. Er ging ziellos, war eigentlich gar nicht da. Er war irgendwo in dem Belgien, das er sich als Kind anhand eines Buchs ausgemalt hatte, irgendwo im silbrigen Licht, am Ufer der trostlosen Sambre. Er war René, der Starke. War der pflichtbewusste Sohn, der verlässliche brave Junge.

      Künstler der Moderne: James’ Mutter hatte es ihm zu seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Erschrocken hatte er festgestellt, dass der kleine René am Ufer genauso alt war wie er und Renés Vater Leopold als Schneider angestellt war. James’ Vater war Schneider in der Heimat gewesen, hatte seine Mutter gesagt, vor ihrem Umzug nach Australien, wo er dann auf Baustellen arbeitete, Schubkarren mit feuchtem Zement über krumme Bohlen schob, schaufelte, hievte und sich seinen zarten Schneiderrücken ruinierte. Es war nicht verwunderlich, dass er sie verließ. Er war hier verloren, hatte seine Mutter gesagt. Wenn alle Häuser bauten, gab es für einen Schneider keine Arbeit.

      James hörte einen Anklang von Vergebung in ihrer festen Stimme. Sie sah ihm in die Augen. Auf der anderen Seite des Küchentischs glühte ihr Gesicht aufgrund der seltenen Enthüllung. Sie war schön gewesen, begriff er. Seine Mutter war schön gewesen. Und da war eine Spur von Verbitterung oder Schuldzuweisung. Vielleicht liebte sie ihn immer noch, dachte James vage. Vielleicht hören solche Gefühle nie auf.

      In Neapel hatte sich die schöne Giovanna in den gut aussehenden Schneider Matheus verliebt. Sie hatten sich gemeinsam auf ein Abenteuer begeben, waren auf dem Schiff Oriana über den Ozean geschippert und in Fremantle, im Westen Australiens, mit dem Gefühl gelandet, gestrandet zu sein. Fast unmittelbar darauf wussten sie bereits, dass etwas in ihrer Ehe nicht stimmte; doch damals ertrugen Paare dies, manchmal bis zur Verzweiflung. Als wollte sie sich gegen die Umsiedlung wehren, lernte Giovanna so gut wie kein Englisch und hielt eine stolze und entschlossene Isolation aufrecht. Matheus gesellte sich zu seinen paisano, um mit ihnen zu trinken und sich Ratschläge von Einheimischen zu holen. Er arbeitete schwer, lernte Englisch, folgte mit seiner Frau einem italienischen Maurertrupp in den Südwesten. Die körperliche Arbeit machte ihn kaputt. In diesem Land, in dem Männer nicht reden müssen, außer bei einem oder zwei Bier über die Einzelheiten des Arbeitstages, verstummte Matheus allmählich immer mehr und war dann verschwunden. Giovanna hatte seit Jahren gesehen, dass er sich zurückzog, dünner wurde und sich wie eine Skulptur von Giacometti in die Länge streckte. Eines Tages hatte er sich ins Nichts gestreckt und war über den Horizont geglitten.

      James war fast drei Jahre alt, als Matheus verschwand. Er hatte nur eine Erinnerung daran, wie er von seinem Vater hochgewirbelt und auf die Schultern gesetzt wurde und wie viel Angst ihm die Höhe gemacht hatte, wie ihn reine Panik packte und er sich um sein Leben fürchtend an schwarze Locken klammerte. Da war kein Gesicht, keine klare Erinnerung, nur dieses Hochgewirbeltwerden, hoch in den Himmel und das Gefühl von großen Händen, die seinen Körper umfassten. Matheus war ein Name und eine Legende, der Mann, dem er angeblich ähnelte. Der ihn auf diese Weise hochgehoben hatte, damit er die Welt besser sah. Erst kürzlich hatte er von Matheus’ Bruder Leo erfahren, der irgendwo in Melbourne mit seiner Familie ein eigenes Leben lebte. Aber für all das war es zu spät. Es war zu spät für die Version einer dieser glücklichen italienischen Familien, identische Gesichter nebeneinander an einem langen, sonnenfleckigen Tisch aufgereiht, auf dem sich Wein und Pasta drängten, an dem Gläser gehoben wurden wie in einer Fernsehwerbung für Olivenöl. Ein Mann mit einem Schnurrbart, eine dicke Mama, die Familie demonstrativ ausgelassen. Über ihnen das blättrige Licht von Weinranken, wie ein Netz aus geöffneten Händen.

      Aus Künstler der Moderne hatte James gelernt, wie unheilvoll das Leben eines Künstlers verlief – und wie interessant, verglichen mit seinem eigenen. Er hatte das Buch unter dem Bett aufbewahrt, als enthielte es beschämendes Wissen, aber dabei gewusst, dass es im Prinzip das Künstlerleben war, von dem er insgeheim tagträumte, das Versprechen, ohne ein einziges Wort Bedeutung zu erzeugen. Das Versprechen Europas und schattiger Orte, eines traurigen aber erträglichen Lebens, dessen Zeugnis vielleicht irgendwo in einer Galerie hängt, losgelöst und wertvoll, unpersönlich und erhaben, stilsicher, rein. Er blätterte durch die Seiten des Buchs, bis sie abgegriffen waren. Er kannte die Porträts aller Künstler, ihre Selbstbildnisse und berühmtesten Gemälde. Selbst als er feststellte, dass er keine Begabung zum Zeichnen oder Malen hatte, sehnte er sich noch nach einem Künstlerleben. Als Teenager entwickelte James den Ehrgeiz, als Statist in einem Film anzuheuern. Er wusste inzwischen, dass dies sinnbildlich für sein Gefühl von Mittelmaß war, dass er niemals im Zentrum von etwas existieren würde.

      All der Raserei lag das Gefühl zugrunde, wie ein menschlicher Helikopter hoch in die Luft gewirbelt zu werden, um dort oben zu thronen, in absurder Höhe, die Hände tief in den Haaren des Vaters vergraben. Diese Ortsveränderung, dieses Heben, an das er sich so genau erinnerte, war Ausgangspunkt all dessen, was James war, und auch seiner gefährlichen Unausgeglichenheit. Erinnerung lag nicht im präfrontalen Cortex, dem Hippocampus, dem Zerebellum oder der Amygdala – wie er diese Begrifflichkeiten liebte, die er sich aus der Zeit als Medizinstudent bewahrt hatte –, sondern im Raum, in den ein Kind gehoben werden kann. Alles, was ihm von seinem Vater blieb, war in dieser Bewegung enthalten.

      Auch Ellie war fest verankert in den Bewegungen von James’ Körper und ihrer eigenen unsichtbar umfassenden Präsenz. Es hatte seither natürlich andere gegeben, die üblichen One-Night-Stands, beiläufig und ohne Bedeutung, aber auch einige ernste, mögliche Lebenspartner. Aber nur Ellie hatte sich wie sein Vater in jener tieferen Erinnerung gehalten, wie Radium in der Unterschicht seiner Zellen abgelagert.

      Sie waren vierzehn Jahre alt, als sie sich zum ersten Mal liebten. Es erstaunte und rührte ihn, wenn er jetzt daran dachte. Da war keine Verwegenheit und kein Können, sondern lustvolle Neugier; junge Menschen, einfach jung. Sie hatten sich hemmungslos auf den Körper des anderen geworfen, weil beide so wenig wussten, was sie tun sollten. Es war der Zusammenstoß vager Absichten und wahrhaftig naiv. Sie hatten gelacht und gespielt. Sie waren kreatürlich übereinandergefallen, wie junge Kätzchen. Sie hatten das Vergehen genossen, von dem sie stillschweigend wussten, dass sie es begingen. Und jetzt, da er nach all den Jahren auf Ellie zuging, zögerte James angesichts der Zeichen ihrer Beharrlichkeit. Selbst in Momenten der Zerstreuung stieß er auf Erinnerungen an ihren Körper und ihre Worte.

      Das Mysterium ihres Pakts lag in dem verlassenen Gebäude, in dem sie sich trafen, dem modrigen Backsteinraum, der einst, vor Jahren, eine Eisengießerei gewesen sein musste. Ihr Versteck, wie sie es nannten, als wären sie Sexualverbrecher. Da waren ein umgekippter Farbeimer, auf den sie eine Kerze gesetzt hatten, ein paar vereinzelte Möbel und ein zerfetzter Stuhl, die Pferdehaarfüllung quoll heraus. Der Stuhl kehrte in Träumen wieder, übergroß und bedrohlich. Es war ein anachronistischer

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