Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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der an einem Pfosten hing. Wartende Passagiere sahen ihr misstrauisch und mit blankem Unverständnis zu.

      Der Zug aus Liverpool fuhr heran, verlangsamte, kam kreischend zum Stehen; und als Pei Xing einstieg, kehrte etwas, das als Spur des frühen Morgens erhalten geblieben war, in Form eines vollständigen Bildes zurück.

      Einmal hatte sie ihren Vater an seinem Schreibtisch besuchen wollen, aber nicht angetroffen. Später fand sie ihn rauchend auf dem Bett, einen Aschenbecher auf der Brust balancierend. Er war in Gedanken versunken, starrte an die Decke. Vom Plattenspieler kam Musik – etwas Melancholisches mit klagenden Trompeten. Das Licht war gelb; im Schlafzimmer ihrer Eltern war es immer gelb. Dieser unbeschwerte Anblick: der große ruhende Mann, ein kleines blaues Gefäß aus Messing und Emaille bewegt sich mit seinem Atem. Die Zigarette, eine Great China, zwischen seinen Fingern. Als Mädchen hatten sie die Stille und der Ernst des Augenblicks gefesselt, und auch das Wissen, dass er sie nicht gesehen hatte, seine nachdenkliche Selbstgenügsamkeit, die Mischung aus Alleinsein und Distanz, die ihr heimlicher Blick enthielt.

      Kinder finden oft zusammenfassende Erklärungen, und damals sagte sie sich: »Ich liebe meinen Vater.«

      Vielleicht lag ihre Liebe eher in Bildern als in Worten. Da war keine Erinnerung daran, dass er gesprochen oder ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Der Moment war still, eingefasst und ganz und gar ihrer.

      Zwei junge Männer, beide trotz der Hitze mit Kapuzen auf den Köpfen, saßen direkt vor Pei Xing und unterhielten sich laut. Auf der Fleecejacke des einen war ein Muster aus menschlichen Schädeln; der andere hatte ein chinesisches Schriftzeichen eintätowiert, Schicksal, gerade noch sichtbar auf seinem Hals. Es war seltsam, diese Schriftzeichen als modische Accessoires auf der Haut junger Männer zu entdecken. Dekoratives Chinesisch. Leeres Chinesisch. Pei Xing blickte aus dem Fenster und sah die Gebäude von Bankstown vorbeifliegen.

      Ihr Vater Chang Yong hatte ihre Mutter Nan Anyi 1935 in London kennengelernt. Er studierte am Birkbeck College und wollte seinen Doktor in englischer Literatur machen; sie war Klavierstudentin an der Royal Academy. Sie hatten sich durch einen gemeinsamen Freund, Wu Xingfu, kennengelernt, einer jener energiegeladenen Exilanten, denen die Kontaktaufnahme mit anderen als aufregende und wichtige Pflicht galt; ständig organisierte er Zusammenkünfte in Pubs und Picknicks im Park. Die Londoner begafften die bunt zusammengewürfelte Gruppe chinesischer Studenten ohne Neugier auf ihre Geschichte und gleichzeitig – das spürten sie – diffus feindselig gegenüber ihrer Gegenwart.

      Chang Yong besaß eine Box-Brownie-Kamera, sein wertvollster Besitz, und einst hatte es eine Reihe kitschiger Fotografien von der Gruppe gegeben, die sie posierend vor verschiedenen Londoner Wahrzeichen zeigte, vor den Löwen auf dem Trafalgar Square, den Stiefmütterchen im Hyde Park, den verschnörkelten Toren des Buckingham Palace. Ein besonders schräges Bild existierte von Yong und Anyi neben den Palastwachen mit ihren pfostenhohen Bärenfellmützen; sie wirkten zwergenhaft, unschuldig und albern. Beide hoben das Kinn in Richtung Wu Xingfu, als er das Foto machte; er musste in die Knie gegangen sein, um das witzige Größenverhältnis zu den Wachen zu betonen. Wenig später schon kam das förmliche Foto von ihrer Hochzeit, ebenfalls von Wu Xingfu geschossen und ebenfalls leicht schief. Das Paar stand auf den Stufen des Standesamts in Camden, beide ohne zu lächeln, so wie es der Konvention entsprach. Anyi trug ein tailliertes Kostüm, und ihre Haare waren wie eine schwarze Meeresmuschel zu einem ordentlichen, gewellten Bob frisiert, der glänzte, als wäre er feucht; Yong trug Nadelstreifen und einen zaghaft schräg sitzenden Filzhut. Beide wirkten glamourös und wussten es. Die Fotografien verrieten Pei Xing, dass sie einander liebten, London sie mutiger gemacht hatte und sie am Beginn ihrer Ehe unzählige Tage vor sich sahen.

      Keines dieser Bilder sollte die Kulturrevolution überleben. Niemand aus der Gruppe. Wu Xingfu, der an der London School of Economics seinen Doktor gemacht hatte, wurde gleich zu Beginn ermordet, nachdem man ihn der Pekinger Universität verwiesen und als »rechten, revisionistischen Schlangendämon« verschrien hatte. Er war ein Abkömmling der »Grundbesitzerklasse«, im Ausland ausgebildet und daher gab es wenig, das er zu seiner Verteidigung hätte vorbringen können. Seine Frau, eine Ärztin an der medizinischen Hochschule von Peking, während der Revolution zum antiimperialistischen Krankenhaus umfunktioniert, beging Selbstmord nur wenige Tage, nachdem sie von seinem Tod erfahren hatte. In den langen Wochen und Monaten, in denen Pei Xing die Listen durchging, um zu erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war, hatte sie auch eine Zeitungsnotiz gesehen, mit der Wu Xingfus postume Rehabilitation unter dem Regime von Deng Xiaoping bekanntgegeben wurde. Sie las die Namen der Toten sorgfältig mit der Frömmigkeit der Tochter. Ihre größte Angst war, sie ewig zu suchen und nie zu finden.

      Irgendwann tauchten die Namen ihrer Eltern schließlich doch auf. Peis erster Gedanke galt ihr selbst: dass sie nun nicht mehr »politisch geschwärzt« war, dass sie jetzt das Land verlassen durfte. Chang Yong und Chang Anyi waren beide rehabilitiert, zweiundzwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden. Ihre Namen fanden sich in einer Liste in der Zeitung, in der Spalte mit den politisch Geläuterten, und ein offizieller Brief vom Büro für öffentliche Sicherheit folgte.

      Pei Xing fühlte nichts, als sie ihn endlich las. Sie beantragte die Rückgabe ihres Eigentums und Bodens und erhielt stattdessen eine kleine Summe. Dann schrieb sie ihrem Bruder in Australien und fragte ihn, ob sie zu ihm kommen dürfe. Als sie zur Behörde in Xuijiahui ging, um Papiere für sich und ihren Sohn zu besorgen, fiel es ihr schwer, von einem »Familientreffen« zu sprechen, ohne sich ihre Aufregung anmerken zu lassen. Der Beamte hinter dem Schreibtisch, ein Mann so dürr wie ein Stecken und mit dem Gesicht eines vertrockneten Pfirsichs, notierte ihr Geburtsdatum – 26. Dezember, der Geburtstag des großen Vorsitzenden Mao –, hob eine Augenbraue und lächelte. Pei Xing war Bemerkungen über ihr verheißungsvolles Geburtsdatum gewohnt. Doch der Beamte sagte nichts. Er unterzeichnete die Papiere und reichte sie ihr. Pei Xing verließ rasch die Behörde, ohne ihm zu danken.

      Doktor Shiwago ist voller Schnee. Shiwago reist mit seiner Frau Tonja in einem Güterwaggon, und die Reise ist deshalb bemerkenswert, weil der Schnee ihr Fortkommen beeinträchtigt und in Form von Metaphern Eingang in die Gedanken des Helden findet. Zunächst sind die Schneeflocken wie Wolle, verdichten sich dann aber zu einem weißen Bühnenvorhang, so breit wie die Straße, er wird langsam herabgelassen und schwingt an den Rändern. Im Scheinwerferlicht des Zuges wird Schnee zum lodernden Feuer, und er bedeckt das Land wie eine Daunendecke den Kopf eines Kindes in der Wiege. Und dann war da ein Abschnitt, den ihr Vater vorgelesen hatte. Shiwago liegt in dem feststeckenden Zug, hört ein Geräusch wie von einem Wasserfall und merkt, dass urplötzlich Frühling in der Luft liegt, die Zeit, in der Schneeflocken noch im Fallen schwarz werden.

      Der Dichter denkt: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten!

      Pei Xing erinnerte sich an diesen Satz, weil ihr Vater ihn ihr wie ein Gedicht beigebracht hatte, nachdem er mit ihr über die Übersetzung von »Schnee« gesprochen hatte. Wenn sie in Not war, sagte sie ihn auf: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten! Da waren so viele – vor allem unwahrscheinliche – Wörter für Schnee; die Satzmelodie gab ihr auf geheimnisvolle Weise Nahrung und Kraft.

      Hier, hier und jetzt, gab es keine Not. Da waren nur die ungebetene Erinnerung und die vorüberfliegenden Vorstädte. Aber was Pei Xing vom Zug aus sah, war größtenteils unschön. Die Rückseiten der Häuser mit ihren klapprigen Zäunen, die Stromleitungen, das Graffiti, die flüchtigen Einblicke in von Hypotheken belastete Leben. Da waren verrostete Autokarosserien, Unkrautgestrüpp, drumherum Abfall, aufrührerische Vegetation und üppige urbane Brachflächen. Ein Einkaufswagen war mit schuldbewusster Hast in einen Rinnstein geschoben; aus dem vorüberrasenden Zug sah er aus wie ein Tierkäfig. Noch mehr Graffiti, gekritzelte, rätselhafte, unleserliche Botschaften. Ein junger Mann, vielleicht ein mutiger junger Mann, war nachts über den Maschendrahtzaun geklettert und hatte die Stadt mit egomanischen Zeichen versehen, einer protzigen Signatur, zur Aneignung.

      Pei Xing hatte keine Freude

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