Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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Übergang vom Alphabet zum Ideogramm. Wenn er seine Brille abnahm und sich den Nasenrücken rieb, durchfuhr Pei Xing reine Liebe.

      Sie hielt ihren Vater für den intelligentesten Mann der Welt. Mit ihrem Bruder konkurrierte sie um seine Aufmerksamkeit, aber irgendwie wusste sie, dass sie durch ihre Gelehrsamkeit klar im Vorteil war.

      »Es gibt so viele Wörter für Schnee«, hatte ihr Vater erklärt und dabei den Kopf in den Nacken geworfen und gekichert, als hätte er einen Witz gemacht.

      Im Feuer, das die Roten Garden 1967 auf ihrer Straße entfachten, brannte Doktor Shiwago lichterloh auf einem Haufen vermeintlich ideologisch verräterischer Bücher. Pei Xing sah das Spektakel mit ihren Eltern, die gezwungen wurden zu knien und zu schweigen. Ihr Vater hatte Verletzungen im Gesicht, ihre Mutter wirkte abwesend.

      Die Opferung der Bücher dauerte länger als erwartet. Manchmal blätterte ein Band Seite um Seite auf, jede wurde einzeln schwarz, kräuselte sich, brannte, verschwand und immer noch waren da Seiten, die sich darunter erhoben. Eine Weile lang schien die Papierpyramide dem Feuer zu widerstehen, sodass einer der Garden in dem kokelnden Haufen herumstocherte und nach Petroleum verlangte. Als es schließlich wild leuchtend loderte, waren alle erleichtert, dass das Geschehen endlich seinen Lauf nahm. Und weil sie ihren Eltern nicht in die Gesichter blicken konnte und weil sie sich fürchtete und weil die Geschichte diesen unglaublichen Willen zur Auslöschung hervorgebracht hatte, starrte Pei Xing hingebungsvoll gebannt ins Feuer. Es war beeindruckend hell.

      Die Vergangenheit verließ sie nie. Ihre Eltern waren immer da, immer kniend, das letzte Mal, dass sie sie lebend sah. Der Bücherhaufen brannte immerfort.

      Aber der verführerische Jurij Andrejewitsch Shiwago erschien ihr fast wirklicher als ihre Eltern, da er unverwüstlich im Kino und in Worten weiterlebte und seine Lebensgeschichte ein bestimmtes, sehr genau beschriebenes Ende fand. Daran hatte ihr Vater geglaubt, dass die Fiktion das Leben übersteigt. Jetzt schmerzte es sie, wenn sie daran dachte, wie fern er geworden war, wie vage und von anderem verdrängt. Ihre Mutter war präsenter: ihre Zuteilungen von Nahrung und Trost, die Märchen aus Guangdong, ihr Klavierspiel, wenn sie ein Stück von Brahms oder Bach übte. Diese Erinnerungen empfingen sie regelmäßiger und häufiger in Augenblicken des Glücks.

      In der Nacht hatte es geregnet, aber jetzt schien die Sonne. Der Tag heizte rasch auf. Pei Xing erhob sich, spritzte sich Wasser ins Gesicht und brühte sich anschließend ihren Longjing-Tee in der Küche auf. In einer Schale im Kühlschrank war noch etwas kalter klebriger Reis; sie goss Kondensmilch darüber, gab einige Scheiben Mango darauf und frühstückte wie immer im Stehen, blickte, als suchte sie etwas in weiter Ferne.

      Hinter dem Fenster über der Spüle erstreckten sich Bankstown und die äußeren westlichen Vorstädte. Riesige Laster rumpelten mit mörderischem Tempo über die Schnellstraßen: da waren Häuser von zweifelhaftem Entwurf, in deren Vorgärten Nutzfahrzeuge parkten, davor klobige Briefkästen aus Backstein; da waren Fabriken, Stahlwerke und ein riesiger Baumarkt von der Größe eines Jumbo-Jet-Hangars, der einen ganzen Straßenzug einnahm. Eine Matratzenfabrik und eine Glasfabrik befanden sich absurd Seite an Seite. Aussie Mattresses. Down Under Glass.

      Im Einkaufszentrum neben dem Bahnhof waren Dutzende kleiner Geschäfte untergebracht mit Schildern über den Eingängen auf Vietnamesisch und Arabisch; Pei Xing fand sie besonders zauberhaft. Sie liebte es, den Menschen auf der Straße direkt in die Gesichter zu sehen: den Männern mit den kräftigen Unterarmen und den unverblümten Blicken, den Frauen mit Hidschabs oder Kopftüchern, die in freundlichen Gruppen unterwegs waren. Ihre Kinder wirkten mollig und fröhlich und ließen Pei Xing aus irgendeinem Grund an Muskatnuss denken. Dann waren da Vietnamesen beim Fischhändler an der Ecke, eine Art Treffpunkt, und die Menschen im Pho-Laden, die sich alle zu kennen schienen. Dieses Australien war asiatisch und arabisch. Die Menschen bewegten sich in ihrer eigenen Aura, fürchteten sich nicht, Raum zu beanspruchen; und unter ihnen fanden sich wiederum andere Völker, Migranten wie sie, alle aus einer anderen Geschichte gerissen und auf den Grund der Welt geworfen. Auf der Straße fühlte sich Pei Xing immer kosmopolitisch. Sie hatte das Gefühl, sich in einer geräumigen neuen Welt unter Freunden zu bewegen. Besonders Menschen aus Nahost hielt sie für sehr exotisch und versuchte, sie nicht anzustarren.

      Pei Xing, mit ihrem Sonnenschirm eine auffällige Erscheinung, ging durch die Straßen von Bankstown, wollte einen frühen Zug erwischen. Sie betrachtete die Schilder über den Läden und entdeckte zum wiederholten Male, wie wunderschön sie die arabische Schrift fand, wie anders als chinesische Schriftzeichen oder deren englische Übersetzungen. Da waren geschwungene Linien, Wellen und Punkte, dazu ultrapräzise Striche, wie Fähnchen. Da wurde an Mekka erinnert und an Bogenfenster und an die Räume in einer Moschee. Wie wohl »Schnee« in arabischer Schrift aussah, fragte sie sich. Wie würden Wüstenvölker das Wort »Schnee« schreiben? Stellten sie sich ihn als fliegenden Sand vor? Mehr als einmal hatte Pei Xing gedacht, Arabisch lernen zu wollen, damit sie sich fließend mit ihren Nachbarn unterhalten und mit den Kindern, die im Treppenhaus ihres hässlichen Wohnblocks spielten, plaudern konnte. Sie würde die Frauen mit den Kopftüchern ansprechen und sie fragen, was sie von diesem Ort hielten und wo sie arbeiteten, was sie aßen und wie man es zubereitete. Ihr Sohn Jimmy hatte sie überreden wollen, in den Vorort nach Ashfield zu ziehen, in die große chinesische Gemeinde, in der er lebte. Aber Pei Xing gefiel es hier in der Nähe der Universität. Hier gab sie Kurse in ihrer Muttersprache, und hier würde sie eines Tages vielleicht wirklich noch Arabisch lernen.

      Mr Nguyen saß in seiner Glaskabine am Bahnhof. Die Fahrkartenautomaten, die wie Roboter einer unglückselig kastenförmigen Zukunft wirkten, ließ Pei Xing außer Acht und zog ihnen ihren Freund und die kurze, hastige Plauderei mit ihm vor.

      »Mrs Chang!«

      »Mr Nguyen!« Sie klappte ihren Schirm zusammen.

      »Ist es Ihnen jetzt heiß genug?«

      Seine Frage war rhetorisch. Pei Xing hatte ihn bei anderer Gelegenheit wegen des batteriebetriebenen Miniventilators aufgezogen, den er sich vors Gesicht hielt. Er war aus pastellrosa Plastik in der Form einer Mondrakete und wehte Mr Nguyens Stirnfransen als glänzend schwarze Haifischflosse zurück.

      »Sie klingen wie ein Australier, Mr Nguyen.«

      »Ich bemühe mich«, erwiderte er. »Wie immer?«

      Mr Nguyen wusste, dass Pei Xing jeden Samstagmorgen die lange Reise zum Circular Quay unternahm und von dort weiter ans Nordufer fuhr, wo sie jemanden aus ihrer Vergangenheit traf. Er war zu höflich, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen, achtete vielmehr ihre verschwiegene Würde und lebenslang geübte Zurückhaltung. Einmal hatte er erwähnt, sie erinnere ihn an eine Lehrerin aus seiner Kindheit in Saigon, und Pei Xing hatte die Mitteilung als Geschenk entgegengenommen; die in ihm wachgerufene Erinnerung voller Zuneigung in Worte gefasst.

      »Wie immer. Circular Quay.«

      Während Mr Nguyen die Fahrkarte ausstellte, fuhr er sich über die Flosse, ein unbewusstes Kämmen. Diese schlichten Gespräche gaben Pei Xing Kraft. Die Menschen setzten zu wenig Zuversicht in bescheidene Unterhaltungen und das, was man wusste, was aber unausgesprochen oder unaussprechlich blieb. Die Ehrfurcht vor kurzen Sätzen, einer Geste oder einem einzigen Wort: Das war das Gefüge der Höflichkeit, die Grundlage des Sozialvertrags. Ohne würde man sterben.

      Mr Nguyen erinnerte Pei Xing an keine bestimmte Person, aber sein Gesicht war rundum gütig und sein Tonfall verbindlich. Wie war dieser freundlich intelligente Mann hier gelandet, eingesperrt zwischen Fahrplänen und aufgestapeltem Wechselgeld in einer stickigen Kabine?

      Der Bahnhof war laut und geschäftig, überall kalter Stahl, hallende Stimmen und die schwere Akustik harter Hohlräume. Abfall wurde über den Bahnsteig geweht, eine Pappschachtel McDonald’s

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