Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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einem größeren Leben, sowie die Bedeutung all dessen. Der Turm einer verlassenen Kirche war gerade noch zu sehen. Er zeigte gen Himmel wie die Antenne eines vergessenen drahtlosen Codes.

      Ellie würde heute begreifen, dass sie James niemals entkommen konnte. Er hatte sich in ihr Leben geprägt, so wie sie sich als vierzehnjährige Liebende aneinandergepresst hatten. In ihre Erinnerungen. Für jetzt und immerdar.

      Ellie würde sich in aller Klarheit an die liebe Miss Morrison erinnern, ihre Lehrerin in der siebten Klasse, als hätte sie ein verblichenes Foto aus einem staubigen Album gerissen. Obwohl sie vier Jahre lang nicht mehr an sie gedacht hatte, würde sie sie den ganzen Tag über mit sich tragen, dicht bei sich wie ein Neugeborenes.

      Die Zeitungen würden Ellie beunruhigen – der Krieg im Irak, die entsetzlichen Gräuel, die Gewalt, die sämtliche Erwartungen von Kriegstreibern und Pazifisten übersteigt. Aufgrund all dessen, ihrer Vorfreude auf James, ihrer Kindheitserinnerungen, der verstörenden Kontinuität von Kriegsgeschichten, war Ellie an diesem Samstagmorgen für Schönes empfänglich. Morgens wachte sie stets ohne Erwartung einer Katastrophe auf. An diesem feuchtklaren Morgen war sie im blauen Licht erwacht, und noch bevor die Sonne im Spalt zwischen den Vorhängen zur brennenden Zündschnur wurde, hatte sie bereits fünf interessante Dinge gefunden, über die es sich nachzudenken lohnte.

      Nach dem nächtlichen Regen wirkte alles hell und gereinigt. Geblieben waren isolierte Pfützen, die gestochen scharf und glänzend den Himmel enthielten, und ein frischer, perlenbesetzter Glanz auf Bäumen und Kletterpflanzen. Nebenan sandte ein Wachsblumenbaum, ein altes verdrehtes Monstrum, Düfte als einheimischen Segen in ihre Räume.

      Ellie hatte früh schon das Haus verlassen, um Zeitungen zu kaufen, war über Pfützen gesprungen und unter tropfendem Blattwerk dahingeeilt. Mit jedem Schritt zertrat sie herabgefallene Blüten. Wachsblumensterne lagen überall und vereinzelt auch Jasmin; die bräunlichen Blütenblätter einer Kreppmyrte waren über die Straße geschwemmt worden und verstopften nun die Gullys. Die Welt befand sich in liebevoller organischer Auflösung. Ellie sammelte ein paar Wachsblumenblüten, die sie in einer Schale zu Hause auf den Tisch stellen wollte, hielt sie beim Gehen sanft vor die Brust, die Zeitungen zur widerspenstigen Rolle geformt unter dem Arm. Ein so schlichtes Auflesen. Ein so schöner klarer Himmel. Sie war frei von Gedanken und glücklich. Sie spürte die ausgelassene, vage Euphorie eines neuen Tages in einer neuen Stadt.

      Im Badezimmer malte sie sich Kajal um die Augen und Pink auf die Lippen. Später würde sie James treffen, nach all den Jahren, und sie war jetzt schon verlegen in Erwartung seines strengen Urteils. Ihre betonten Lippen wirkten nuttig und zu auffällig, aber einem Mittagessen am Hafen und dem Exhibitionismus in den Cafés von Sydney durchaus angemessen. Sie wollte früh zum Circular Quay, da sie ihn noch nicht gesehen hatte, wollte herumspazieren, Maulaffen feilhalten, wie ihr Vater sagen würde, und Ausschau halten, um James unbemerkt zu beobachten, wenn er eintraf. Sie würde Maulaffen feilhalten, würde Leute beobachten, durch die Stadt streifen, das Gewusel der Massen genießen und die unberechenbaren Bewegungen des Menschenverkehrs, der flutartig an Ampeln heranschwappte, seine rhythmischen Fortbewegungsschübe, nichts Besonderes zu tun zu haben, bis es Zeit für das Treffen war. Sechs Wochen. Seit sechs Wochen lebte sie in Sydney und hatte noch immer den Quay nicht gesehen. Die Wohnungssuche, das Einleben; jetzt hatte ihr James’ E-Mail gestattet, einen Tag für Besichtigungen freizunehmen.

      Ellie machte sich einen Kaffee und breitete die Samstagszeitungen auf dem Tisch aus. Da waren die üblichen Schrecken. Der Krieg im Irak, die Bomben in Afghanistan, die Raffgier der großen Mächte und die Unterwerfung der kleinen. Auf der Titelseite war ein Foto von einer verzweifelten Frau mit Kopftuch, in zerrissener, drastischer Trauer über den toten Körper ihres Sohnes gebeugt. Das Bild war exemplarisch und vertraut. Sie war die namenlose Mutter, die einen namenlosen Sohn verloren hatte, das gefällige Porträt eines weiteren Angriffs, und es war ausgewählt worden, weil ihre verzerrten Gesichtszüge und ihre Verzweiflung, das Flehen ihrer erhobenen Hände, pantomimisch über das hinausgingen, was journalistisch möglich war.

      Die ungeheure Sichel des Todes.

      In die Geschichte würde diese Zeit als unerbittliche Wiederholung eingehen. Wie viele Bilder der Trauer mochte der Leser einer beliebigen Zeitung sehen? Wie viele Bilder von aufgerissener Erde oder von Sanitätern, die mit einer Trage vorübereilen, eine Gestalt zu klein, zu anonym und zu tödlich reglos unter einem Tuch? Wie lange würden diese Bilder noch etwas bedeuten? Ellie dachte an den japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto, der Filme im Kino fotografierte. Er ließ die Blende im dunklen Zuschauerraum geöffnet und belichtete seinen Film über die gesamte Dauer der Vorführung. Das Ergebnis waren nicht wild und kompliziert übereinandergelagerte Bilder, sondern schlichtes weißes, reines Licht, aufblitzendes Nichts. Zu viele Bilder, die einander überlagern, ergeben eine Leerstelle. Sie stellte sich vor, wie Hiroshi Sugimoto seine Fotos in einer Galerie betrachtete und über das Mysterium staunte, das dieses Übermaß an Auslöschung bewirkt.

      Von irgendwoher in der Straße ertönte eine Sirene. Dann noch eine, gefolgt von einer weiteren, einem schrillen Jaulen. Ellie wollte sich schützen vor dem, was ihre Laune kippen könnte. Sie las nur die ersten beiden Absätze über den Irak, dann suchte sie die Inlandsnachrichten. Die Artikel handelten immer noch vom Regierungswechsel und den »Flitterwochen«, die auf den Amtsantritt folgten (seltsam, dachte sie, diese sexuellen Konnotationen). Aber es lag Optimismus in der Luft und ein Hauch von Neubeginn. Der noch recht junge Premierminister, dessen Mondgesicht strahlte, wirkte sehr zufrieden mit sich, wie ein Schulsprecher im Blazer bei einer Preisverleihung. Ellie staunte immer wieder, wie viele männliche Politiker sich ihr Kleinejungengesicht bewahrten. Oder wie vielen es gelang, verdutzt über ihre eigenen maßgeblichen Ankündigungen zu wirken, wenn sie im Scheinwerferlicht der TV-Studios darauf bestanden, dass eine unsinnige Entscheidung in bester Absicht getroffen wurde. Die Mikrofone sahen aus wie lauschende Insekten, vornübergebeugt saugten sie den Nektar des Skandals. Jetzt gab es eine neue Regierung. Möglicherweise durfte man noch Veränderungen erwarten; und würde möglicherweise enttäuscht. Ellie hatte die Literaturbeilagen aus den Zeitungen genommen. Die würde sie sich für später aufheben, um die literarischen Dimensionen der Welt in Ruhe zu überfliegen, diese unermüdliche, scheinbar heldenhafte Sinnproduktion. Sie hatte derzeit kein Geld, um sich neue Bücher zu kaufen, aber dafür gab es ja Bibliotheken, die sie sehr schätzte, und außerdem diese kompakten Beschreibungen anderer Welten.

      Eine der Mitarbeiterinnen in ihrer Stadtteilbibliothek sah aus wie Miss Morrison. Warum war ihr dieser Zusammenhang vorher nie aufgefallen? Und beide ähnelten, wiederum in einer seltsamen Anverwandlung, der Königin von England, deren absonderlich steifem Gesicht, dem strichschmal angespannten Mund. Miss Morrison zeichnete etwas an die Tafel und schrieb tolle Wörter, unterstrich sie mit einem übergroßen Eichenholzlineal, das klatschte, wenn es traf. Wenn sich Ellie heute an sie erinnerte, dann oft in statischer Rückschau, die Frau unbestimmten Alters, die vermittels eigener Botschaften kommuniziert, abgewandt, ernst, mit dem Rücken zur Klasse. Die Kinder ihrer Kleinstadtschule, James saß neben ihr, verspürten den Impuls, sie zu verspotten, allerdings irgendwie gedämpft und respektvoll. Außerhalb der Schule konnte James jedoch grausam sein. Er war das Kind – eines gibt es immer –, das andere parodierte. Zum schuldbewussten Vergnügen seiner Klassenkameraden äffte er Miss Morrisons gebückte Haltung nach, imitierte ihre sehr hohe Stimme und tat, als würde er Worte an einer unsichtbaren Tafel unterstreichen, anschließend drehte er sich mit verächtlicher Grimasse zu seinen Klassenkameraden um.

      Ellie faltete die Zeitungen zusammen und trank ihren Kaffee aus. Wachsblumenduft hing im Raum. Ein weiterer sonnendurchfluteter Tag von der Art, wie er die Stadt im besten Licht erscheinen lässt. Von der Art, wie Pauschalreisen ihn versprechen, mit Strandvolleyball, ausgelassenen Kindern und den Schatten bebender Palmen über unglaublich grellblauem Wasser. Trotzdem, Sydney überraschte sie. Würde sie es immer so sehen? Würde der Circular Quay seiner eigenen Reklame gerecht? Ellie berührte ihre bemalten Lippen, dachte an ihre Haare und ärgerte sich anschließend über die Reste der Eitelkeit, die sie längst zu eliminieren

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