Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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gearbeitet, in der Bibliothek gelernt oder als Kellnerin in Gallo’s Café auf der King Street gejobbt, und diese flüchtige Urlaubsvision ließ sie innehalten.

      Draußen herrschte nahtloser Sonnenschein, versprach einen heißen Tag; hier drinnen, überschwemmt von Erinnerungen, existierten ihre Räume in einem anderen Licht, als hätte die Macht der Erinnerung selbst die Physik ihrer Umgebung verändert. Die Vorstellung faszinierte sie. Diese Gegen-Zeit von James’ Rückkehr, die Licht in ihr eigenes dunkles Theater brachte.

      Ellie betrachtete das wässrige Leuchten der veränderlichen Formen. Da fiel ihr ein – belanglos, egal –, wie scheußlich James war, in der Erinnerung oft gar nicht der Star der Schule, das kluge Kind, das »Genie«, wie sie ihn einst genannt hatten, sondern ein Versehrter. Und noch etwas kehrte zurück: James fassungslos, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen. James, der sich beim Lesen die Ohren bedeckt, als wollte er seinen Kopf festhalten. James, der ihrem Blick ausweicht. James, der sich abschottet.

      James schlief schlecht in dem Hostel-Zimmer. Das Bett war durchgelegen nach den Tausenden anderer Körper, die seinem vorangegangen waren, nach ihren Mühen, ihrem nächtlichen Herumwerfen, ihren eigenen Schleppnetzen voller unruhiger Träume in einem Raum voller verbrauchter Luft vermischt mit einem Anflug heimlich gerauchter Zigaretten. Das kleine Fenster stand offen, aber es war dennoch abgestanden und muffig.

      Als er spät in der Dunkelheit endlich eingeschlafen war, hatte etwas seine selbstgewählte Einfriedung durchbrochen, das sich dann als Regen herausstellte, der mit sanfter Beharrlichkeit und einem leisen Klopfen wie von trommelnden Kinderfingern seinen Schlummer aufstemmte. Im Dämmerlicht stand er halb blind auf und tastete nach dem Fenster, aber er konnte es nicht bewegen und merkte, dass er sein Gesicht hineinhielt, wie in einem Taumel gefangen, weder schlafend noch wach blickte er in die schwarze regnerische Schlucht der George Street hinab. Es musste ungefähr drei Uhr sein, vermutete er. Die Straße weiter oben, gerade so außer Sichtweite, war das sandsteinerne Rathaus, die Fassade bierfarben im Licht der Scheinwerfer, und dahinter das Einkaufszentrum, das aussah wie eine Messehalle aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einer plumpen Statue der Königin Viktoria am Eingang. Auf seiner Straßenseite, weniger vornehm, befand sich eine Reihe kleiner Geschäfte, die die Anfänge von Chinatown markierten – Nudelimbisse, vietnamesische Bäckereien, Pfandleiher, Kneipen, Hostels für Rucksacktouristen.

      Ein Bus rumpelte mit den vereinzelten Fahrgästen einer Freitagnacht die Straße entlang, aber die Fußgänger waren nun spärlich geworden, vor dem Regen geflohen. Einige wenige verzweifelte Nutten rauchten unter Regenschirmen und ein einsamer Junkie suchte Stoff. Eine der Frauen trug Absätze, die so hoch waren, dass es aussah, als würde sie gleich stolpern, ständig musste sie ihr Gleichgewicht suchen, dann wieder beinahe stürzen. Der Anblick war bewusst darauf ausgerichtet, das Bedürfnis zu wecken, sie aufzufangen, dachte James, sich wie Jesus hinzustellen, die Arme auszubreiten, während sie sich sexuell hingab. Diese Art von inszeniertem Risiko und dazu die Anonymität ihres Körpers. Man selbst ein Erlöser. Ein Auto tauchte aus dem Nichts auf und fuhr im Näherkommen langsamer. James sah, wie die Frau unter dem schützenden Schirm ihrer Freundin hervortrat und sich in das Wagenfenster beugte. Etwas an der Art, wie sie sich neigte – von der Taille an wie eine Puppe –, rief Mitleid in ihm hervor.

      James spürte den Regen auf seinem Gesicht. Er war kühl und leicht. Er spürte eine Verbundenheit zu den anderen um diese Zeit Wachen, den Desperados der Stadt und den arbeitenden Fahrern. Den Versprengten, Verlorenen und Umherschweifenden. Den Schlaflosen. Den Benachteiligten. Landmenschen wie er vielleicht, denen dieser ganze Mist in der Stadt zu viel war, die sich überwältigt fühlten. Als ein Krankenwagen mit heulender Sirene vorbeiraste, dachte James, wie emblematisch dies für das Großstadtleben war: Irgendwo gab es hier immer einen Unfall oder eine Katastrophe, immer blutete jemand oder verlor seine Eingeweide.

      Er sagte sich immer wieder, er sei nach Sydney gekommen, um mit Ellie zu sprechen, etwas von seiner Vergangenheit zu retten, etwas gutzumachen und ihr zu erzählen, aber sein Aufenthalt hier hatte etwas Trostloses und Endgültiges, hier und jetzt, in dieser regnerischen, traurigen Dunkelheit, in der er wahrhaft eins mit sich war.

      James musste schließlich wieder eingeschlafen sein, denn um neun wachte er erneut auf. Der Name Magritte lag ihm auf den Lippen. Er flackerte auf in seinen Gedanken, dann verließ er sie wieder. James war von zu vielen Pillen und dem Wodka spät in der Nacht erledigt, unkonzentriert und stumpf. Der Tag war bereits heiß, und die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete, und James stand auf, weil er den Gang hinuntergehen und pinkeln musste. Ein heikler Ausflug. Die Kacheln waren krankenhausgrün und die Wände schmutzig. Er entdeckte Spinnen unter den Rohren, Flecken von den Absonderungen anderer Männer und das Morgenlicht, das durch das vergitterte Fenster strömte und ihn eigentlich hätte aufmuntern sollen, stattdessen aber einen grellen Kopfschmerz anstieß. Als er sich vor dem Spiegel über dem Becken rasierte, wich er seinen eigenen Blicken aus. Wie viele Männer rasieren sich so, ohne sich dabei selbst sehen zu wollen? In der schrägen Neigung seines Kopfes versteckte er sich vor dem, was zum Vorschein kommen mochte. Der Verlust des Glaubens. Der Verlust des Gesichts. Das Ende dessen, was er einst erträumt hatte oder hätte werden können.

      Zurück in seinem Zimmer schluckte James eine Handvoll Vitamine und Analgetika, ahmte den verrückten Arzt aus dem Fernsehen nach, der sich ständig selbst Medikamente verschrieb. Einige Sekunden lang überlegte er, ob er sich wieder hinlegen, in ein Laken hüllen und die Augen vor dem Tag verschließen sollte, der Echtzeit der Stadt eine Abfuhr erteilen und den Rückzug vorziehen.

      Doch er stand auf und verließ den düsteren Raum – Ellie, Ellie –, betrachtete seine Füße auf den ungleichmäßigen Stufen.

      Der junge Mann am Empfang hatte ebenfalls eine schlechte Nacht gehabt und schien noch erledigter als James. Er hob eine Hand, die Handfläche nach außen gekehrt, wie ein katholischer Priester bei einer stummen Segnung. Könnte schwul sein, dachte James. Er hatte das grauhäutige Aussehen von jemandem, der in einer Raumkapsel lebt, in einem Science-Fiction-Film aus den Achtzigern mit sabbernden Aliens und ständiger Gefahr. Oder eines Ertrunkenen, fortgespült, verloren in den Tiefen des Wassers. Seine Blässe leuchtete traurig und unheilig. James nickte ihm zu, wollte nicht an Priester, Ertrunkene oder schlechte Filme denken und trat rasch hinaus auf die Straße, um Smalltalk zu vermeiden.

      René Magritte, sein Lieblingsmaler.

      Mit vierzehn ging Magritte mit seinem Vater Leopold ans Ufer der Sambre, um die Leiche seiner Mutter Adeline zu identifizieren. Sie war ins Wasser gegangen, hatte sich umgebracht, und er stand ernst und schweigend dort, hielt die Hand seines Vaters, ein pflichtbewusster Sohn, ein verlässlicher braver Junge, während man ihren schlanken Körper aus dem kalten grauen Wasser fischte. Das war 1912. Es war das Ende seiner Kindheit. Leopolds Gesicht war voller geplatzter Äderchen und rot vom Weinen; seine Knie gaben nach, er ließ los und brach wie eine Marionette vor seiner toten Frau zusammen. Doch der blasse junge René stand einfach nur da und schaute. René war der Starke, blieb emotional gefasst. Stoff bedeckte das Gesicht seiner Mutter wie ein nasses klebriges Leichentuch. Ihr Kleid hatte sich umgestülpt, als man sie mit den Füßen voran aus dem Fluss zog, und trotzdem hatte er sie an den braunen Schuhen erkannt, an denen sie eine Schnalle durch eine andere, nicht passende, ersetzt hatte, und an dem Siegelring an ihrem Mittelfinger, der einst seiner Großmutter gehört hatte. Als sie den Rock herunterschälten und sie anständig zurechtmachten, war sie schmutzig vom Flussschlamm und gab vor zu schlafen. Ihre Wangen waren fahl, eingefallen, ihre Augen geschlossen, und René spürte sein Herz beben und kentern. Ihr Gesicht. Seine Mutter. Ein so tiefer Tod, dass man sich darin suhlen konnte.

      Nicht viel später trat der künftige Surrealist seine erste Stelle in einer Tapetenfabrik an, wo er Wiederholungen entwarf. Wiederholungen waren leicht. Jeder lose Schnörkel wirkte abgeschlossen, wenn er in einer Wiederholung aufgereiht wurde. Jede einzelne Blüte wurde zu vielen, jede große

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