Ein Samstag in Sydney. Gail Jones

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Ein Samstag in Sydney - Gail  Jones

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intakten Glasscheibe, durch die der Chef einst die Männer in der Werkstatt beobachtet haben musste, aber das Glas war schmutzig und milchig weiß vom Staub. Ellie und James hatten der Versuchung widerstanden, ihre Namen hineinzuschreiben; beide wussten um die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Sie legten eine Decke auf den Boden und versteckten sich gemeinsam, waren zu glücklich, um sich mit Staub oder in Herzen gefassten Initialen abzugeben, zu weit fortgeschritten in ihrem jugendlichen Hunger, um einfach nur Freund und Freundin zu sein.

      James dachte an René Magrittes Gemälde Die Liebenden, das Porträt zweier verhüllter Köpfe, beide unter einem grauen Tuch verborgen. Etwas anderes als die Auslöschung aller Details hätte der Künstler sicher nicht ertragen. Adeline, eine Hutmacherin, nähte bis spät in die Nacht, und zweifellos erinnerte sich ihr Sohn an ihre Finger im Licht der Lampe auf einer gebogenen Filzkrempe oder wie sie eine Hutkrone auf eine gesichtslose Holzform pressten. Ohne Zweifel erinnerte er sich an den perfekten Bogen der Nadel, die in den Wollstoff stach, und die Rundung von Adelines Rücken, wenn sie sich vorbeugte, um mehr Licht zu bekommen.

      In Magrittes Gemälden gab es sehr viele Hüte. Außerdem riesige Äpfel in Wohnzimmern, Pfeifen, die keine waren, aus Kaminen fahrende Züge, Reflexionen, wo eigentlich keine hätten sein dürfen, Tag und Nacht nebeneinander. Seine Bilder zeigten Verschiebungen und seine Figuren waren der Auslöschung nahe. Genauigkeit hätte sie getötet. Realismus hätte ihn getötet. Die Schnalle. Der Ring der Mutter. Der kreisrunde Fleck aus Flussschlamm, der Daumenabdruck des Todes, der sich in dem kleinen Grübchen direkt unter Adelines Unterlippe gebildet hatte. Weil James dies verstand, konnte er erwägen, Ellie wiederzusehen. Aufgrund all dessen war sie eine unfassbare Abfolge von Gesten und Bewegungen, er sehnte sich nach Bestimmtheit, nach den winzigen Details, die er an ihr gekannt hatte, das geliebte Gesicht unbedeckt. In diesem Fall, das wusste er, würden ihn die Details retten. Die Ideen waren zu groß. Der Raum, der durch ein Ertrinken entsteht, das trübe grüne Wasser, das sich über einem Gesicht schließt, war ungeheuerlich, niederträchtig und mit nichts vergleichbar.

      Auf der George Street in der Innenstadt jaulte die Alarmanlage eines Autos. In der Ferne hörte man das Dröhnen eines Flugzeugs, langsam im Sinkflug begriffen, und plötzlich registrierte James den tosenden Verkehrslärm. Im petrochemischen Dunst blickte er nach oben auf die hässliche Mischung aus geometrischem Stahl, den Glasfronten der glitzernden Hochhäuser, den derben Bannern des Kommerzes. Das gesamte Zentrum Sydneys schien sich ihm entgegenzuneigen, so wie Gebäude im Zeichentrick einstürzen – wusch! – um einen grinsenden Idioten herum. James überlegte, ob er in die Gänge eines Kaufhauses oder eine Seitenstraße schlüpfen sollte. Stattdessen machte er instinktiv entschlossen kehrt und ging in der entgegengesetzten Richtung weiter.

      Zum Zug, beschloss er. Er würde mit dem Zug zum Circular Quay fahren.

      In seiner schreckhaften Unruhe ließ sich der kurze Weg bergauf zur Central Station leichter bewältigen. Magritte glitt von ihm ab. Die Sambre. Die ertrunkene Mutter. Die Schatten dessen, was er gewesen war. James konzentrierte sich auf Ellie, als er seinen Gang wieder aufnahm, nach Westen schritt.

      Er sah chinesische Plakate und das riesige Diagramm eines Fußes, die Druckpunkte mit zarter Schrift mit einem bemerkenswerten Grad an Komplexität hervorgehoben, dann einen Laden, in dem buddhistische Artefakte verkauft wurden, die meisten waren augenscheinlich rot. Dass in der Innenstadt ein Geschäft für Gegenstände der kultischen Verehrung existieren konnte, erschien ihm hoffnungsvoll, wenn auch ungewöhnlich. Als er hineinspähte, sah er Altäre, Weihrauch, eine Reihe Buddhas im Schneidersitz, alle hergestellt aus dunkelrotem Plastik, wie es schien, außerdem verschiedene Stickereien, die vermutlich dem Gebet dienten und nun in spirituell empfänglicher Atmosphäre baumelten. James hätte ein solches Geschäft nie betreten, schaute jetzt aber interessiert hinein. Ein Verkäufer blickte auf und lächelte ihm zu; James errötete und wandte sich ab. Ein Stück weiter grinsten ihn zwei Männer durch das Fenster einer Kneipe an; erneut merkte er, dass er rot wurde. Dann war da eine Reihe billiger Klamottenläden, allesamt betreut von zierlichen Asiatinnen mit wogendem Haar; und dahinter Lebensmittelgeschäfte – thailändisch, chinesisch, indisch, vietnamesisch –, mehr, als sich in einer einzigen Straße halten konnten. Welten trafen aufeinander, dachte er. Australien gehörte zu Asien. Er sah, wie vielfältig all das war, das Bestreben vieler Nationen, die Lädchen vieler Geschäftsleute, die internationale Energie, die zwischen Sprachen und Ländern pulsierte. Die Übersetzungen bestanden weniger aus Worten denn aus verblüffenden Kombinationen: Geschäften, Völkern, Zeichen und Wundern.

      In einem anderen Leben hätte er es vielleicht geliebt. Aber James zerfiel, das wusste er. In ihm entstanden Brüche und Schrunden, als wäre etwas in seinem Körper gerissen. Vergangene Zeiten schwappten hinein, Scham und Reue und zu viel unerträgliche Realität. Er setzte seinen Gang durch die Stadt fort, hörte ihren Namen in seinem Kopf: Ellie, Ellie, Ellie, Ellie. Der Name, den er im Schlaf seufzte. Als wäre er ein buddhistischer Sprechgesang, die Ausrichtung eines Kompasses oder die glückbringende Formel einer vergessenen Welt. Als wäre der Klang ihres Namens eine Art innere Musik.

      Pei Xing wachte an jenem Morgen auf und dachte an Doktor Shiwago von Boris Pasternak. Jurij Andrejewitsch Shiwago, der Dichter und Arzt. Abgesehen von ihrem Vater, war er der erste, wenngleich nicht reale Mann, den sie je geliebt hatte.

      Noch bevor sie die Augen aufschlug, spürte sie ihn schon im Bett neben sich. Es war, als wäre er aus der russischen Kälte durchs Fenster geflogen, um sich an ihrem Körper zu wärmen, um seinen dunklen Schopf zwischen ihre kleinen Brüste zu schmiegen. Er erschien ihr so wie in der berühmten Filmfassung – gespielt von Omar Sharif –, diese riesigen braunen Augen, die Aura sexueller Raserei. Die ersten Sekunden waren verschneit, voller wirrer Bilder und wunderbar erregend; sie hätte sein Gesicht in Händen halten können, so gewiss war seine Verkörperung.

      Als Pei Xing begriff, dass sie wach war, merkte sie auch, dass ihre Wangen von Tränen benetzt waren. Doktor Shiwago war der Lieblingsroman ihres Vaters gewesen und seine berühmteste und angesehenste Übersetzung. Obwohl er als gefährlich und konterrevolutionär galt, den Roten Garden und Mao Zedong mit seiner Propaganda des Wahren Revolutionsgedankens ein Dorn im Auge war, hatte er den Roman mit quälerischer Hartnäckigkeit bis zu seinem allerletzten Atemzug verehrt. Gerne zitierte er einen Abschnitt gleich vom Anfang über »die Musik: die Unwiderstehlichkeit der waffenlosen Wahrheit, die Anziehungskraft ihres Beispiels«: und sogar jetzt erinnerte sie sich noch an den ganzen Absatz, obwohl es Zeiten gegeben hatte, in denen sie ihn vergessen wollte.

      »In uns allen schlummert eine innere Musik«, hatte er gesagt und dabei wie ein Lehrer geklungen. »In jedem Menschen auf dem Planeten. In jedem Einzelnen von uns.«

      Eine innere Musik: Was war das, hatte sie sich oft gefragt.

      Ihr Vater neigte zu Ankündigungen. Immer mal wieder gab er einen aphoristischen Satz von sich oder fühlte sich verpflichtet, etwas in der Literatur oder der Politik wie kursiv gesetzt zu kommentieren. Was andere vielleicht belächelten, fand Pei Xing liebenswert.

      Ihr Vater besaß eine russische Erstausgabe von Feltrinelli aus dem Jahr 1957. Und dann eine englische von Harvill, aus der er übersetzte. Sie hatte ihn Nacht für Nacht an seinem Schreibtisch bei der Arbeit gesehen, im Schein einer Messinglampe hatte er gesessen, neben sich englisch-chinesische und russisch-chinesische Wörterbücher, dazu eine Great-China-Zigarette zwischen zwei Fingern. Sie stellte sich den Handel mit den Bedeutungen wie eine Art Spiel vor, bei dem Symbole wie Mahjong-Steine getauscht und verschoben wurden. Zeichen wurden aus einer Welt in eine andere bewegt, stießen aneinander, ergaben neue Abfolgen. Ein Mann im bolschewistischen Russland wurde praktisch zum Chinesen; eine Welt entfaltete sich auf dem Papier. Dieses Spiel fand auf dem grenzenlosen Kontinent statt, der der Kopf ihres Vaters war. Sie konnte sehen, wie er sich konzentrierte: »CHeΓ« auf Russisch, »neve« auf Italienisch, »snow« auf Englisch, bis er zu dem

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