Ebbe und Blut. Peter Gerdes

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Ebbe und Blut - Peter Gerdes

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beschwörende Worte, dann war der Ton weg. Das Podium wurde fluchtartig geräumt, die Leute rannten zum Hinterausgang. Kornemann, Boelsen und Iwwerks waren schon nirgends mehr zu sehen. Ein Teil der Menge drängte nach vorn, der andere nach links, zum Haupt­portal.

      »Nichts wie raus«, schrie Sina. Jetzt begriff sie, was es bedeutete, das eigene Wort nicht verstehen zu können. Eine neue Erfahrung, dachte sie, während sie sich hinter Melanie her zum Ausgang kämpfte.

      Etwas Hartes krachte gegen ihre Knie. Sie stoppte, wurde weitergeschoben, taumelte, kämpfte um ihr Gleichgewicht, klammerte sich an irgendwelchen Armen fest. Vor und unter ihr saß Nanno in seinem Stuhl. Sie schaute direkt in seine grauen Augen. Der Schmerz verging, als er lächelte. Was er sagte, konnte sie nicht hören. Er drehte sich nach vorn, seine Arme stießen auf die Räder hinab. In seinem Kielwasser passierte sie das Nadelöhr.

      Draußen blieben sie erst hinter den Parkplätzen stehen. Sina spürte den Schweiß am ganzen Körper und fror plötzlich. Ihre Jacke hatte sie im Auto gelassen.

      »Frostkötel«, spottete Nanno, als sie sich in ihre eigenen Arme zu wickeln versuchte. »Hast dich wirklich kaum verändert.«

      Aber du, dachte sie. Ihre Zähne begannen zu klappern, und sie öffnete die Lippen, damit er es hörte.

      Er lächelte zurück.

      10

      »Bitter Lemon, wie immer?«

      »Genau.« Nanno nickte der Bedienung, die gerade den überflüssigen Stuhl mit routiniertem Schwung an den Nachbartisch geschlenzt hatte, freundlich zu. Hier im Taraxacum scheint er ja gut bekannt zu sein, dachte Sina und bestellte sich einen Bordeaux. In dem ziemlich voll besetzten Café, das in der Leeraner Altstadt hinter einem altertümlich anmutenden Buchladen lag und nach Ladenschluss nur durch eine schmale Seitengasse zu erreichen war, wurde ihr schnell wieder warm. Musik von Sting rieselte aus den Lautsprechern, gerade laut genug, um vom allgemeinen Stimmengewirr nicht verweht zu werden. Viele waren von der Turnhallen-Veranstaltung direkt hierher gekommen; entsprechend lebhaft war die Unterhaltung.

      Unterwegs hatte Sina Gelegenheit gehabt, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. Sicher, irgendwer hatte ihr seinerzeit erzählt von dem Motorradunfall, und dass Nanno »wohl etwas zurückbehalten« würde. Aber damals hatte sie so viele andere Dinge im Kopf gehabt, und irgendein anderer Junge – sie dachte von ihren Ex-Liebhabern nur als von »Jungen« – hatte das Bild des von ihr leidend, weil ohne echte Hoffnung angeschmachteten Nanno zum Verblassen gebracht. Der mit dem geheimnisvollen Blick, vom anderen Gymnasium, ein paar Klassen älter – Backfischkram. Sie hatte beruhigt registriert, dass er mit dem Leben davongekommen war, und angenommen, alles andere würde schon wieder werden.

      Kein Gedanke an Rollstuhl.

      Die Getränke kamen schnell, noch ehe ihr Gespräch in diesem schweren Geläuf Fuß gefasst hatte. Sie strahlte Nanno an, wohl etwas zu heftig, denn er lächelte nur nachsichtig zurück, und das tat weh. Sina senkte den Blick in ihr Weinglas. Der funkelnde Bordeaux war dunkel, fast schwarz.

      Dann fing er einfach an zu erzählen, berichtete knapp von dem Unfall – ein Trecker mit abgesenktem Frontlader, er hatte keine Chance gehabt – und von der Zeit danach. In Andeutungen nur, ohne so mitleidheischend ins Detail zu gehen, wie Sina das von ihrer Mutter kannte. Sie ahnte auch so, was für eine harte Zeit das gewesen sein musste mit Krankenhaus, Reha-Kliniken und unzähligen Therapiestunden. Eine verdammt lange Zeit.

      »Mir war klar, dass ich mich entschließen musste«, sagte er dann. »Jeder Rolli hat seinen Entschluss gefasst, das weiß ich inzwischen. Du hast die Wahl zwischen einem langen Tod und einem neuen Leben. Ich habe mich für das Leben entschieden.« Sein Unterkiefer war hart, als er das sagte, wie von einer großen Anstrengung. Seine Wangen waren hohl und straff, und seine Augen glitzerten. Dann lächelte er wieder.

      Sina weinte, kramte nach einem Papiertaschentuch, sagte: »Entschuldige bitte.«

      »Diesmal ja«, sagte er. »Aber mach’s dir nicht zur Gewohnheit.«

      Sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Und wo lebst du jetzt? Und was machst du?« Was man eben so fragte unter alten Freunden, nach so langer Zeit.

      Nanno erzählte, dass er sich eben erst wieder in Ostfriesland niedergelassen hatte. »Auch ein Stück mehr Unabhängigkeit, weißt du. Bis vor kurzem war ich noch auf die Großstadt angewiesen, wegen der vielen Fachärzte und Einrichtungen, die ich so brauchte. Jetzt kann ich schon wieder auf dem Dorf leben, wie andere ganz normale Menschen auch.«

      »Und da bist du so scharf drauf?«

      »Mal ’ne Weile gucken.« Er zuckte die Achseln. »Weißt du, in gewisser Weise habe ich ja auch Vorteile. Die Waisenrente, die Versicherung – ich bin einigermaßen versorgt. Und kümmern muss ich mich nur um mich selbst.«

      Sina spähte durch die gesenkten Wimpern, versuchte herauszubekommen, ob das jetzt sarkastisch gemeint gewesen war, konnte aber keine Anzeichen dafür entdecken. Was nichts heißen musste.

      »Also wohne ich jetzt auf dem Fehn, als Untermieter beim alten Kapitän Thoben. Starker Typ irgendwie.« Nanno erzählte von seinem Glücksgriff und ein bisschen von der ganz persönlichen Tragödie seines neuen Hauswirts. »Auf alle Fälle ist es da draußen sehr ruhig, da lässt es sich bestimmt prima schreiben.«

      Richtig, die Lyrik. »Kann mich nicht erinnern, schon mal etwas von dir gelesen zu haben«, sagte Sina. »Ich war ganz gespannt, aber heute ist ja leider nichts aus deinem Auftritt geworden.«

      Nanno winkte ab. »Mit der Gitarre bin ich eigentlich ein Fossil. Politische Liedermacherei, ich bitte dich! Wird ja schon seit Jahren nicht mehr hergestellt.« Jetzt lachte er endlich richtig, breit und mit großzügiger Präsentation prächtiger weißer Zähne. So wie früher eben. »Dabei ist es sogar von Vorteil, dass ich ein Krüppel bin. Da traut sich keiner zu pfeifen, und alle bleiben brav sitzen.«

      Mit dem provokanten Wort Krüppel, das wohl alle selbstbewussten Behinderten hin und wieder einsetzten, hatte Sina gerechnet. Sie lachte schallend mit.

      »Na, so gute Laune hier?«

      Toni Mensing stand plötzlich an ihrem Tisch wie aus dem Boden gewachsen. Ein halbwüchsiges Grinsen hing schief auf seinem Asketengesicht, ein für seine Verhältnisse schon richtig leutseliger Ausdruck.

      »Ist es gestattet, dass ich mich zu euch setze? Ich kann Melanie nirgends finden, aber vielleicht taucht sie ja hier auf.« Im Kneipenlicht wirkten die Höhlungen in seinen stoppeligen Wangen grundlos tief, und seine kohlschwarzen Augen schienen zu glühen.

      »Klar, setz dich«, sagte Sina und dachte: »Gleunig Oogen.« Das stand im Plattdeutschen für Gier, auch für Verrücktheit. Oder Fanatismus. Ihr war Toni immer unheimlich gewesen.

      Das Gespräch stockte, während Toni umständlich einen Stuhl zurechtrückte und sich vorsichtig darauf niederließ. Hexenschuss, vermutete sie, während sie sich daran erinnerte, wie Melanie damals von ihm geschwärmt hatte: »Das ist einer mit Idealen, verstehst du, mit richtigen Zielen. Der hat Tiefe, mit dem könnte ich tagelang reden.« Das war so dick aufgetragen gewesen, da hatte sie natürlich fragen müssen, ob die beiden denn schon miteinander gepennt hätten und was er so drauf habe. Was ihr einen vernichtenden Blick eintrug: »Natürlich nicht. Das ist was Echtes zwischen uns, das hat doch damit nichts zu tun.« Jetzt, mit so vielen Jahren Abstand, glaubte sie ihr aufs Wort.

      Toni hatte damals an der Fachhochschule Emden studiert, was genau,

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