Die Chroniken des Südviertels. Rimantas Kmita

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Die Chroniken des Südviertels - Rimantas Kmita

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aus der Klasse zum Ausprobieren gegeben.«

      »Zum Ausprobieren? Wer denn?«

      »Remyga.«

      »Ich rufe seine Mutter an.«

      »Na gut, er hat sie mir nicht geliehen, sondern für Plakate hergegeben.«

      »Und woher du diese Plakate hast, das hast du mir auch nicht gesagt.«

      »Hab ich doch, die soll ich verkaufen. Für jedes bekomme ich zwanzig Cent.«

      »Also, verstehe ich recht, du sollst die verkaufen und hast sie gegen eine Jacke eingetauscht? Wie willst du den Plakatbesitzern denn jetzt das Geld zurückgeben?«

      »Ich hab doch schon viele verkauft, da kann ich die Schulden easy bezahlen. Die Philatelisten lassen die Marken links liegen und kaufen diese Plakate.«

      Wie am echten Zoll kannste mit solchen Märchen niemanden überzeugen. Im Unterschied zum Staatsdiener lässt sich aber die Hauszöllnerin nicht bestechen. Meine Mum rief also Remygas Mutter an, die kam her, nahm die Jacke mit, und ich kehrte nicht nur auf denselben Level zurück, sondern durfte ne Stufe weiter unten neu anfangen und mir außerdem noch die Moralpredigt anhören, dass mit diesen Plakaten jetzt Schluss ist und noch viel so Gelaber. Noch weniger Luft und der Hausarrest strenger. Aber ich schwieg und verriet nicht, wie Remyga an diese Jacke gekommen war.

      So war das, das Regime der lettischen Zöllner ganz und gar unmenschlich und das Business aus – zumindest für ne Weile. Also musste ich vor Ort schauen, wie ich durchkam. Und zwar ohne Panik. Die Ohrringe brachten zumindest so viel ein, wie ich reingesteckt hatte, und auch der Magic Crystal wirkte zwar nicht Wunder, aber immerhin steckte ich nicht mehr bis zum Hals in der Scheiße.

      Ein Wunder vollbrachte dagegen unser Trainer. Er organisierte ne Turnierteilnahme. Nicht zu Hause, nicht in Riga, nicht in der Ukraine. Und nicht mal in Polen. In Deutschland! Und nicht in der früheren DDR, sondern im Westen! Leute, es geht nach Hannover!

      8

      Nein, wart ma, nicht so.

      Wir steigen aus. In Hannover.

      Ich steig aus und jetzt steh ich da. In Hannover.

      Habt ihrs gehört – in Hannover.

      Und jetzt alle zusammen: Han-no-ver! Han-no-ver!

      Kapiert? Ich und Hannover!

      Meine Knie ganz weich, alles dreht sich im Kreis. Wenn die aus meiner Klasse mich hier in Hannover sehen könnten, sie würden sich vor Neid in die Hose machen. Wenn ich wieder dort bin, werde ich natürlich ne Miene auflegen, à la ich war in Hannover, na und?

      Ja, war geil da, klar. Nur schade, jetzt sind schon Ferien, jetzt geht die Schule erst im September wieder los, und alle erzählen dann von ihren Lagern am See und sonst so nem Scheiß, und ich, ich sage dann wie beiläufig, dass ich in Hannover war.

      Wir wohnen beim Stadion, auf so ner Wiese. Bis wir unsere Wigwams aufgestellt, bis wir die Klamotten verstaut haben, bis noch irgendwas, seht nur, haben unsere Trainer auch schon das Weite gesucht. Im Bus sind alle möglichen Trainer mitgefahren, von allen Altersgruppen, obwohl wir nur zwei Altersgruppen waren. Und alle haben sich beim ersten Halt Magazine mit ner Karre auf der Titelseite gekauft und den ganzen Weg bis nach Hannover nicht mehr losgelassen. Die schienen ja alle richtige Asse in Deutsch zu sein. Doch später haben wirs gerafft, die haben keine hohe Literatur gelesen, sondern viel Einfacheres: Automarke, Herstellungsjahr, Diesel/Benzin, Preis, Stadt, Telefonnummer.

      Nur einer ist geblieben. Er sagt, jetzt beginnt dann das Training. Die da sind fertig mit ihrem Spiel. Also ziehen wir uns um, marschieren los. Wir bekommen alle nen Ball, die sind supercool, neu, haften an der Hand. Bei uns in Litauen gibts vielleicht nen einzigen in der Art, und auch mit dem spielen nur die Erwachsenen bei Wettkämpfen, bei allen anderen aber hat das Leder Risse, und sie sind schlüpfrig wie Frösche. Wir werfen sie uns einander zu und sehen, dass alle n breites Grinsen aufsetzen, wir können nix dagegen machen, denn wir sind völlig high von diesen Bällen, und als wir den Rasen betreten, brechen wir sofort in n Riesengejohle aus.

      »Aufm Rasen isses weicher als aufn Titten meiner Freundin!«, ruft Sauliens,

      »Schau mir nur, dass du dir nicht den Ständer abbrichst!«, ruft n anderer.

      Der Rasen sieht aus wie frisch gestrichen, wie Daunen, du lässt dich hineinfallen und landest weich. Wir beginnen einander zu schubsen und hinzufallen, niemand hört aufn Trainer, los, ja so, mach ma, komm schon, alle Trainer sind weg, die haben uns mit n paar Älteren zurückgelassen. Bei uns wächst da, wo man uns Rugby spielen lässt, das Gras überhaupt nur an den Rändern, und in der Mitte ist so was wie Ackerboden, manchmal auch Kies, und wenns geregnet hat, n totaler Brei. Wenn du mitm Knie aufn Kies fällst, erinnerste dich an Mama, Oma und die ganze Verwandtschaft.

      Also, wir trainieren und hüpfen wie die Fohlen rum. Unsere Ballkombinationen klappen jetzt. Aber was zu beißen hat uns noch keiner gegeben. Die Butterbrote und Kekse haben wir aufm Weg hierher aufgegessen, ist ja weit bis zu diesem Hannover. Wir maulten schon was von Essen. Aber da sehen wir, da kommt so n Typ mit nem Tablett voller Semmeln. Wir packen also die Semmeln, aber da sehen wir, da ist Hackfleisch drauf. Ja, rohes Hackfleisch. Wir werfen einander fragende Blicke zu, prusten los. Wir verstehen, was man uns sagt, das ist, sagen die, gesund, viel Energie nachm Training. Aber was solls, wir haben tierisch Hunger und niemand hat mehr was anderes in seinem Rucksack. Wir nehmen sie. Vorsichtig. Beißen rein und kauen. Kauen und geben uns Mühe nicht zu reihern. Beim Anblick der anderen möchte man n paar dumme Sprüche machen. Der Maumas, der isst rohes Hackfleisch! Aber ich esse ja selber auch welches. Und lange dann noch mal zu. Niemand kotzt oder rennt aufs Klo.

      Mit was im Magen gehen wir in die Stadt zum Sightseeing. Alles deutsch angeschrieben. Stimmt, wie sollte es auch anders sein. Aber eins isses, zu wissen, dass in Deutschland alles deutsch angeschrieben ist, etwas ganz anderes, es zu sehen, zu lesen und davon angeleuchtet zu werden. Jepp, angeleuchtet. Wie von nem Wunderwerk. Schon in Polen isses uns seltsam vorgekommen, nicht auf Litauisch, nicht auf Russisch, nein, auf Polnisch. Aber dort haben wir noch was verstanden, hier jedoch fast nix. Und wenn man nix versteht, dann ist auch das Wunder größer.

      Wir ziehen durch die Stadt, schauen uns alles an, was und wie, und wo hier der Markt ist. Wir überprüfen die Automaten in den Straßen, wo man Geld reinwirft und n Kaugummi rauskommt, hauen n paarmal drauf, vielleicht spuckt er ja was aus.

      Ja, Deutschland ist nicht Polen und nicht Lettland, und wir haben nicht gewusst, was wir mitbringen sollen. Dass man Autos von dort nach Litauen bringt, das ist allen klar, aber was nimmt man dorthin mit? Einer hat gesagt, die zahlen dort gut für Metallrubel mit Leninkopf. Aber wo soll man die hier verkaufen? An- und Verkauf, wir sehen, da liegt aller möglicher Kleinkram rum, wir gehen rein, zeigen sie, nein, uninteressant. Wir sind n wenig verwirrt, wie kann denn Lenin uninteressant sein? Irgendwie finden wir den Weg zum Markt, sehen aber, wir sind nicht die Ersten mit unsren Lenins. Ist was anderes, als bei den Indianern mit Glitzerzeug rumzufuchteln. Und wir haben uns ne Schweinemühe gemacht, die Iljitschs aufzutreiben, haben sämtliche Verwandten abgeklappert, um ihren Preis gefeilscht und dann stundenlang überlegt, wie viel Deutschmarks die Deutschen wohl dafür hergeben würden … Für die kann man in den Kommerzgeschäften einkaufen, wie für harte Dollars, und dort gibts Kassettengeräte, Schuhe, Klamotten, Kaugummis – und alles original. Wahrscheinlich hätten wir mit den Iljitschs kommen sollen, als der Lenin noch im Zentrum von Šiauliai stand, vor der Berufsschule.

      Na dann bleiben halt die

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