Morgenroths Haus. Thomas Perlick
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Siehst du das stolze Schloss dort, den ersten Kaufmannsladen am Platz? Das ist Morgenroths Haus!
Nein, es ist nicht leer und schon gar nicht stumm. Du brauchst nur ein bisschen Phantasie. Du solltest von der Art der Träumer sein, ein Gaukler und Hofnarr des Fürstentums Erinnerung. Wenn du aber im Herzen blind bist und im Kopf ein kühler Rechner, dann geh’ lieber weiter! Troll dich Richtung Eigenheim Baujahr sechsundneunzig mit strahlweißen Häuten und sterilem Innentod. Ich bin dir ja nicht böse, wenn du es bequem haben willst und keine krummen Wände magst. Ich mag sogar krumme Menschen.
Hast du aber die Flöte des Hirten in der Tasche und vermagst die Lieder deiner fröhlichen Kinderstube zu spielen, dann bist du jetzt am richtigen Ort. Stell dich vor Morgenroths Haus! Dann wird es dich freundlich ansehen mit seinen hellen Fensteraugen.
Aber nimm dir Zeit! Lehn dich an die Murmelmauer! Lausch dem Geseufz und Gestöhn – oh ja, sinnlich ist sie auch noch, die alte Menschenhütte. Verschweigt nicht, welche Lüste einwohnten und welche Zeugungen gipfelten.
Am schönsten ist es am Morgen. Dann regt sich Geschäftigkeit im Lager. Du brauchst jetzt ganz große Ohren. Dann kannst du hören, was andere gesehen haben. Man packt nämlich gerade den Kaffee in braungebrannte Tüten: K. H. Schmidt steht in stolzer Schrift dar auf. Das ist Karl Hugo, der Erzvater, ein Kaufmann vom Scheitel bis zur Kohle. Sein Kaffee ist weltberühmt. Man trinkt ihn in den Tassen der Vorfahren. Riechst du dieses frisch gemahlene Schwarzpulver tief in der Nasennebenhöhle? Weißt du, wie oft wir es gemeinsam begossen haben?
Leg dein Ohr fester an die Mauer! Da ist der Laden, ach was, die Zauberwelt der kleinen Dinge. Lauter Kostbarkeiten, die man noch richtig lieb haben kann, bevor man sie verkauft. Hörst du die Schübe, wenn sie aufgezogen werden? Nicht? Dann drück deinen Kopf fester an Morgenroths Hausmauer! Spuck auf die Meinung der anderen! Ja, sie beobachten dich, einen kleinen Mann, der das Ohr am Hausputz hat. Bald holen sie die Polizei oder den Herrn Doktor aus der Psychiatrie. Beachte sie nicht! Du verpasst sonst den Moment, da sich das Rascheln der Tüten im Hause erhebt. Das ist die Sternstunde der Kinderherzen: Der vieltönende Gesang all der kleinen Dinge, die sich gern verkaufen lassen. Das Hohe Lied der Liebe zum Detail.
Hörst du den vollen Sopran der roten Bonbons? Sie klingen reiner als die blauen. Und die grünen Pfefferminzer brummen etwas.
Vielleicht sind sie noch im Stimmbruch? Puffmais kannst du gar nicht missdeuten. Er trifft sogar das hohe Fis.
Hörst du es? Morgenroths bauen ihre Wunderwelt im Kramladen. Sicher, er lädt auch zum Kaufen ein. Aber als erstes immer zum Schauen.
Da, dieses Klappern: Man hat die Deckel der Holzkistchen geöffnet! Jetzt sieht man die Zigarren in ihren Miniröcken um den schlanken Leib. Mir brachten sie später einen schönen Durchfall ein mit feuerrotem Po und Wundmalen an der Innenseite. („Junge, wann kommst du eigentlich mal vom Klo herunter?“) Die kleinen Sünden bestraft der Herr nämlich sofort. Aber auch für diesen Fall holte man die Salbe nicht beim Apotheker. Sie lag in Morgenroths Regal, links, nicht weit von der Kernseife.
Endlich knackt der Schlüssel und nun öffnet sich die Tür. Die Männer kommen auf ein Bier und eine dicke Havanna.
(„Ach, scheiß auf die Alte! Wird der Zins halt verraucht, statt versoffen!“)
Kannst du mich sehen? Nicht? Dann träum dich zurück. Es sind nur vierzig Jahre! Das bin ich wirklich, der Kleine in Lederhosen! Der Gütige neben mir, das ist mein Onkel, Landarzt und Kaltraucher. Auch so ein Zigarrenkunde. Immer steckte das braune Rohr erloschen zwischen seinen Lippen.
Komm, schauen wir durch die Fenster in Morgenroths Haus hinein! Ich kann mich nicht mehr beherrschen.
Siehst du mich vor den Lakritzen? Jetzt greift die freundliche Frau Morgenroth nach den Brezeln und ich darf ins Süße langen. Ich mag die Streifenbonbons, diese Zahnzieher, die sich so schön verkleben. Frau Zahndoktor Senf wird’s schon richten mit ihrem lärmenden Gaumenbohrer.
Nun sitzen die Schwatzmänner am Tresen und schütteln sich ihre Morgengeschichten aus den Hirnrinden. Sie wissen alles besser. Das darf man auch, wenn man aus den Gläsern liest.
So war die kleine Welt in Morgenroths Haus. Ich seh’ sie noch und du kannst das auch. Man muss nur lieben, was vergangen ist. Dann geht es schon!
Pepe, das Zigarrenkistchen
Nein, ein Kolonialwarenladen war das Kaufparadies Morgenroth gewiss nicht. Die meisten Dinge zählten zu den Einheimischen. Sie waren nämlich mit der Bahn gekommen. Dennoch gab es weitgereiste Burschen, die nach Fremde rochen und düstere Geschichten erzählen konnten. Das waren vor allem die Zigarren, braungebrannte, windgegerbte Kerle, die sich vor nichts fürchteten und eine raue Stimme hatten.
Sie kamen aus Übersee und hatten nach einer langen Reise die Freie und Hansestadt Hamburg erreicht, die Königin der Hafenstädte. Wer von dort nach Themar kam, wurde besonders beneidet. Denn in Hamburg gab es nicht nur feine Leute und mehrstöckige Kaufhäuser, sondern vor allem ein berühmtes Bordell, das ganz anders war als die billigen Absteigen sonstiger Hafenmetropolen. Obwohl es eingerichtet war wie ein Hotel erster Klasse, fanden selbst Leichtmatrosen aus Ostfriesland dort Aufnahme, sofern sie ihre Heuer noch beisammen hatten. Freilich mussten sie sich zunächst in einem der Bäder des Hauses ausgiebig reinigen. Erst danach erwählte man sich die Dame des Abends und stillte das lange gezügelte Begehren.
Wer aus Hamburg kam, der hatte zwar oft kein Geld mehr, konnte aber von einer Liebe berichten, für die man gern bezahlt. Auch die abenteuerliche Reise der Zigarrenkiste Pepe hat mit diesem Ort käuflicher Lüste zu tun.
Aber beginnen wir die Geschichte an ihrem Anfang:
Pepe wurde am 26. April des Jahres 1921 in Rio von dem achtfachen Familienvater Julio gefertigt, und zwar aus sehr dünnen Brettchen, die in einem neu entwickelten Verfahren gefalzt, geklebt und schließlich am Deckel mit Messingbeschlägen verschraubt wurden. Julio hatte darin eine solche Fertigkeit entwickelt, dass er pro Tag an die zwanzig Kistchen mehr herstellte als seine Kollegen. Deshalb konnte er sowohl seiner drallen Frau wie auch seinen dunkeläugigen Kindern manche Freude bereiten, freilich in sehr bescheidenem Maße, denn der Lohn war karg und nur die Firmenbosse wurden fett.
Julio stellte das fertige Produkt auf ein Förderband. Nun konnte die runde Maria mit einem geschickten Griff genau achtzehn dicke Zigarren in das Behältnis legen, es verschließen und mit einer roten, bedruckten Banderole bekleben. Am Ende wurde die brasilianische Herkunft durch einen Echtheitsstempel bestätigt, den ein Herr vom Zoll mit bedeutungsvoller Miene aufdrückte.
Pepe war die zweiundvierzigste Kiste, die vom geschickten Julio an diesem 26. April 1921 fertiggestellt, von Maria verschlossen sowie von der Staatsmacht gestempelt wurde. Ein ganzer Fuhrpark langer Kutschen wartete schon auf dem Hof, so dass Pepe ohne Verzögerung zu einem stolzen Segelschiff namens „Antonia“ transportiert werden konnte. Zur Besatzung gehörten: der feige Kapitän Jens Leid, der versoffene Steuermann Per Bodenstein, der Schiffskoch Bodo Belter und nicht weniger als 16 Leichtmatrosen, darunter Fritz Teumer, und natürlich der Schiffsjunge Martin Winter, der in unserer Geschichte noch eine herausragende Rolle spielen wird, ein Waisenknabe aus dem Allgäu, der im Gegensatz zu zwei Dritteln der Besatzung die kommende Tragödie überlebte.
Schiffsjunge Martin und Leichtmatrose Fritz freundeten sich bereits am Anfang der langen Seereise an. Beide waren aus einer bösen Kindheit gekrochen und hatten nun tollkühn ihr Schicksal in die eigene Hand genommen.
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