Friedrich Engels. Jürgen Herres
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Jean Béraud, Le jour d’emprunt, ca. 1890.
Nicht nur durch die Rüstungsindustrie, sondern vor allem mit der massenweisen Herstel-lung von Investitionsgütern und in der Erschließung des weiten Landes mit Hilfe rationeller Formen der landwirtschaftliche Produktion in großem Maßstab stiegen die Vereinigten Staaten seit den 1870er Jahren zu einem der führenden Industrieländer auf. Engels wie auch Marx hatten das Potential dieses „erwachenden Riesens“ bereits früh erkannt und dessen ökonomischen Pulsschlag sowie seine Auswirkungen auf Europa akribisch verfolgt. Engels ließ es sich nicht nehmen, einen unmittelbaren Eindruck vom Land selbst zu erhalten. Seine Analysen der Ökonomie und auch der gegenüber Deutschland und Frankreich so differierenden Orientierung der amerikanischen Arbeiter thematisiert James Brophy.
Im Gegensatz zu zeitgenössischen Beobachtern, die vor allem von der Warenfülle und den sich verändernden bürgerlichen Konsumgewohnheiten der Zeit fasziniert waren, sah Engels einen eigentümlichen Gegensatz zwischen den zunehmenden Konsumchancen und dem „Elend“ der arbeitenden Klasse, deren Arbeit diese Überfülle materieller Güter erst ermöglichte. Werner Plumpe geht der Analyse der Antworten von Engels auf diese soziale Frage nach. Sein zusammen mit Marx ausgearbeitetes historisches Erklärungsmodel konstruierte eine Entwicklungsdynamik, die im Antagonismus von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus lag und notwendig zu dessen Zusammenbruch führen werde. Was Engels dabei weitgehend verkannte, waren die Möglichkeiten, die noch unter den gegebenen Verhältnissen existierten. Zwar kam es wiederholt zu zyklischen Krisen, doch waren sie kein Untergangszeichen des Kapitalismus, sondern Schwankungen um einen ansteigenden Trend, der vor allem von relativ kontinuierlich wachsenden Produktivitätsfortschritten getragen wurde. Weder waren die Konzentrationserscheinungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie Engels vermutete, Zeichen einer zwangsläufigen Monopolisierung und Vertrustung; die Masse der Großkonzerne jener Zeit sind im Laufe der Zeit im Zuge tiefgreifender technologischer Brüche untergegangen. Noch führten temporäre technologische Engpässe zum finalen Schicksal des Kapitalismus. Engels’ Konzeption der Produktivkräfte blieb daher so naiv wie rigide: naiv, weil er eine Art gesetzmäßigen Automatismus ihrer Entfaltung unterstellte, rigide, weil er die Fesseln der Produktionsverhältnisse, wie sie sich für ihn seit den 1840er Jahren gezeigt hatten, für unveränderlich hielt.
Zur Einordnung der in Die Lage der arbeitenden Klasse in England von Engels monierten „Ausbeutungsverhältnisse“ gibt Margrit Schulte Beerbühl eine quellennahe Übersicht der Arbeitsverhältnisse in Großbritannien mit Schwerpunkt Manchester und London. Die Mechanisierung vieler Produktionsprozesse sowie der Übergang zur Fabrikarbeit und zu modernen Betriebsformen lösten traditionelle Arbeitsverhältnisse auf, doch dies vollzog sich ungleichmäßig und ungleichzeitig. Auf der Verliererseite standen die heim- und handarbeitenden Weber, Spinner, und Frauen. Viele wurden in den Niedriglohnsektor der ungelernten Tagelöhner gedrängt und konkurrierten mit irischen Einwanderern. Die Nachfragestruktur der Hauptstadt unterschied sich signifikant von den übrigen Städten im Vereinigten Königreich: zum einen wuchs der Bedarf an hochwertigen Luxusartikeln, die noch nicht industriell herstellt werden konnten, zum anderen stieg auch der Bedarf an preisgünstigen Massenwaren für die rasant wachsende Bevölkerung Londons. Obwohl sich die Hauptstadt nicht zum Vorreiter der Fabrikindustrie entwickelte, weil hier die Grundstückskosten, Löhne und Energiekosten zu hoch waren, waren die Entwicklungen nicht weniger dramatisch. Es entwickelten sich „economies of scale“, die nicht auf Maschinen, sondern auf manueller Fließbandarbeit wie etwa der Schneider, Näherinnen oder Schuhmacher beruhten. Ein großer Teil der bevölkerungsreichsten Stadt der Welt lebte in solchen Kümmerexistenzen.
Engels’ bekannte frühe ökonomische Werke der Jahre 1844/45, die Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie und Die Lage der arbeitenden Klasse in England, haben Marx zur Politischen Ökonomie geführt und markierten bereits zentrale Elemente des späteren sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus. Engels ging mit der ökonomischen Theorie seiner Zeit hart ins Gericht und trug selbstbewusst eigene Positionen vor. Aus der Sicht der Geschichte des ökonomischen Denkens hinterfragt Hans Frambach, inwieweit Engels’ ökonomischer Beitrag zum damaligen Stand wissenschaftlich fundiert war, vorhandene Ansätze und Denkweisen überhaupt aufnahm, das zur Kenntnis Genommene selektiv erfasste und interessengesteuert verwendete, bei der Auswahl des konkreten Untersuchungsgegenstandes mit Vorurteilen vorging, sich auf Quellen stützend, die seiner Meinung, aber nicht immer dem Erkenntnisstand der Wissenschaft entsprachen. Fragen wie die nach der generellen Bedeutung der von Engels so verachteten Politischen Ökonomik für das Leben in den aufstrebenden Industrienationen werden berührt, aber auch auf die Vielzahl zeitgenössischer kritischer Positionen gegenüber der Politischen Ökonomik eingegangen, die teilweise von den „Klassikern“ selbst und Vertretern anderer Theorielager geübt wurden. Es werden u. a. Hintergründe aufgezeigt, wie Engels zu manchen seiner Überzeugungen gelangte – z. B. die vehemente Ablehnung der Malthus’schen Bevölkerungstheorie – und eine Begründung gegeben, warum die Schriften Lorenz Steins, die zur Bekanntmachung des Sozialismus in Deutschland nicht unwesentlich beigetragen haben, von Engels kaum wahrgenommen wurden. Darüber hinaus wird gezeigt, dass die in der ökonomischen Theorie vor allem durch Joseph Schumpeter im 20. Jahrhundert verbreitete, aber im 19. Jahrhundert bereits durchaus bekannte Metapher der schöpferischen Zerstörung im Denken und Handeln von Friedrich Engels vorhanden war.
Adolph Menzel, Eisenwalzwerk 1872/1875.
Heinz D. Kurz unterzieht anhand der Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie Engels’ Wahrnehmung der Politischen Ökonomie einer systematischen Analyse. Mit kühnem Strich geißelte der junge Kaufmann 1845 die herrschenden Verhältnisse, attackierte die Nationalökonomie, die diese angeblich rechtfertigt, und entwarf die Umrisse einer zukünftigen Gesellschaft, in der alles besser werden soll. Wie kaum ein anderer Zeitgenosse verfolgte er mit seinen Betrachtungen über Wissenschaft, Technik und Arbeit den Puls der Zeit. Sein Essay hallt wider vom Dröhnen des ersten Maschinenzeitalters, vom Stampfen der mechanischen Hämmer, vom Lärm in den Fabriken. Das Neue versklave die Menschen in der privateigentümlichen Sozialordnung mittels des Fa briksystems auf noch nie dagewesene Weise, doch die gewaltige Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft biete bei entsprechender Verteilung eine bessere Zukunft in sittlichen Verhältnissen. Engels’ Angriff auf „die“ Ökonomen landete den einen oder anderen Treffer, aber nicht alles, worauf er zielte, existierte. Die klassische Politische Ökonomie von Adam Smith bis David Ricardo missverstand er wiederholt oder schrieb ihr Auffassungen zu, die sie nie vertreten hat. Seine Ausführungen über die zukünftige Gesellschaft blieben blass. Das Informationsproblem sprach er zwar an, aber er unterschätzte dessen Tragweite für die Organisation einer Gesellschaft ohne Markt. Die Vorstellung, die sittliche Gesellschaft könne ohne gewisse von Menschen gemachte Institutionen auskommen, wirkt wunderlich. Die Nationalökonomie war für ihn lediglich eine mit allen Mitteln zu bekämpfende Irrlehre.
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