Friedrich Engels. Jürgen Herres

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Friedrich Engels - Jürgen Herres

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die Herausgabe von Band 2 und 3 des Kapitals zu dessen ersten Interpreten. Durch eine detaillierte Analyse der Entstehungsstufen der Manuskripte und der dabei zutage tretenden, sehr weitgehenden redaktionellen Arbeit von Engels belegt Regina Roth seinen Anspruch auf Deutungshoheit über die ökonomische Theorie von Marx, die grundsätzliche Ausrichtung der sozialistischen Bewegung sowie über tagespolitische Fragen. Andererseits hinterließ Engels eine deutungsoffene Formel: „Our theory is not a dogma but the exposition of a process of evolution“. Chamäleonhaft schlüpfte Engels auf diese Weise in die Rolle der Pythia von Delphi und eröffnet damit eine bis heute andauernde, weltweite Diskussion um den richtigen Weg aus dem Kapitalismus.

      Doch wie entwickelte sich dieser Kapitalismus „nach Engels“? In einem kurzen Überblick über wesentliche Veränderungen seit Engels konstatiert Norbert Koubek, dass sich mit der technischen Entwicklung, den gewandelten Bedürfnisprofilen der Beschäftigten und den Änderungen der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen die Rahmenbedingungen für das Handeln stark verändert haben. In den prägnanten Stichworten von Taylorismus, Fordismus, Lean Management, Mitbestimmung, Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit kommen diese strukturellen Veränderungen zum Ausdruck, die stark auf die Thematik von Arbeit und Unternehmen bezogen sind.

      Dabei weisen in der gegenwärtigen vernetzten und globalisierten Welt die verschiedenen Regionen abweichende Niveaus der Entwicklung auf, für die unterschiedliche Modelle zur Anwendung kommen. In den auch weiterhin am höchsten entwickelten westlichen Ländern mit parlamentarisch-demokratischen Strukturen, in denen die Industrialisierung begann und sich weltweit ausbreitete, sind Änderungsprozesse nachweisbar und wirksam, während in den wirtschaftlich in der Erstentwicklung stehenden Ländern teilweise die von Engels beschriebenen Verhältnisse vorliegen. Zwischen beiden Modellregionen liegen die sogenannten Schwellenländer mit Beeinflussungen von und Optionen nach beiden Richtungen. Nach wie vor bestehen bleiben – wie zu Zeiten von Engels – die Fragen der Bevölkerungsentwicklung, der Vermögensverteilung sowie der technologisch und gesellschaftlich herbeigeführten Änderungen von Arbeitsprozessen.

      In seinem Fazit konstatiert Jürgen Kocka, dass in den letzten Jahren eine deutliche Aufwertung von Engels relativ zu Marx stattgefunden hat. Dies sei auch Ergebnis einer Historisierung seiner Person. Zum einen wird immer wieder deutlich, wie entscheidend Engels’ Vorstellungen vom Kapitalismus und seinen Krisen von eigenen Erfahrungen in der westdeutschen und der englischen Textil-, speziell der Baumwollindustrie geprägt waren. Zum anderen könne Engels als besonderes Exemplar europäischer Bürgerlichkeit gedeutet werden. Trotz vieler bohèmehafter und anderer unbürgerlicher Elemente in seiner Lebensführung und trotz der schneidenden Bürgertumskritik im Zentrum seiner Auffassungen und Schriften sollte man Friedrich Engels als Produkt westeuropäischer Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts sehen. Engels werde im vorliegenden Band ganz entschieden als eine Figur des 19. Jahrhunderts betrachtet. Aber für die Engels-Rezeption in der Gegenwart sei diese historische Distanz durchaus angebracht.

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      Friedrich Engels: Meine unsterblichen Werke. Handschriftlicher Entwurf eines Verzeichnisses seiner Publikationen, niedergeschrieben im April 1891. Engels’ Titel findet sich auf dem unteren (hier nicht wiedergegebenen) Teil der zweiten Seite. 1892 erschien eine Druckfassung der Liste mit einer biographischen Skizze über Engels im ‚Handwörterbuch der Staatswissenschaften‘. (Friedrich Engels, Artikel, in: MEGA2. I/32, S. 517 f. und 1421–1425.)

      FRIEDRICH ENGELS ALS JOURNALIST UND PUBLIZIST EIN ÜBERBLICK

      JÜRGEN HERRES

      Im handschriftlichen Nachlass von Friedrich Engels befindet sich ein unscheinbares Blatt Papier aus dem Jahre 1891. Auf ihm führt Engels seine zahlreichen Publikationen auf. Obwohl er die Liste ernst meinte, drückte er doch in der ihm eigenen Art Distanz aus und gab ihr den ironischen Titel Meine unsterblichen Werke.

      Der 70-Jährige war von dem deutschen Nationalökonomen Ludwig Elster, einem der Herausgeber des kurz zuvor ins Leben gerufenen Handwörterbuch der Staatswissenschaften, um ein Schriftenverzeichnis und „unbedingt zuverlässige“ autobiographische Angaben gebeten worden.1 Beides hat Engels offensichtlich umgehend an Elster gesandt. Der Antwortbrief und die nach Deutschland übermittelten Materialien sind nicht überliefert, aber immerhin das erwähnte Blatt Papier. Ein Jahr später erschien ein kurzer biographischer Lexikonbeitrag über ihn – mit einem ausführlicheren Schriftenverzeichnis. Das Handwörterbuch, das im Gustav Fischer Verlag in Jena erschien, erlangte als Enzyklopädie der Sozialwissenschaften rasch Ansehen und Verbreitung; es erlebte mehrere Auflagen und wurde in den 1950er Jahren als Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, dann als Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften fortgeführt.2 Engels hatte also die Gelegenheit genutzt, sich dem deutschsprachigen Wissenschaftspublikum vorzustellen. Ein Jahr später tat er dies auch für den 1883 verstorbenen Karl Marx.3

      Blatt und Liste sind auf den ersten Blick unspektakulär. Engels listet Tätigkeiten für Zeitungen genauso auf wie selbständige Publikationen und auf Zeitschriftenartikel zurückgehende Broschüren und Bücher. Aber auch wenn die Liste mehr als dreißig Titel ausweist, fehlen – nicht nur aus heutiger Sicht – wichtige Texte und Projekte. So enthält sie – vermutlich dem Anlass entsprechend – fast nur deutschsprachige Publikationen, seine zahlreichen englischen und französischen Veröff entlichungen fehlen, seine sich über ein Jahrzehnt erstreckende Korrespondententätigkeit für die US-amerikanische Zeitung New York Tribune genauso wie seine Kommentierung des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 in der Londoner Abendzeitung Pall Mall Gazette. Aus heutiger Sicht fehlt jeder Hinweis auf seine Mitwirkung an den Manuskripten zur Deutschen Ideologie sowie auf seine eigenen Manuskripte zur Geschichte Irlands und zur Dialektik der Natur.

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      Friedrich Engels,1888.

      Sprach Engels immerhin mit feiner Ironie von seinen „Werken“, so wurden im 20. Jahrhundert seine – und Marx’ – Schriften und Theorien in einem Maße und mit einem Ernst ideologisiert, die heute kaum noch nachvollziehbar sind. Ihre Schriften und zu Lebzeiten unveröff entlichten Manuskripte wurden aus den intellektuellen Konstellationen und zeitgenössischen Diskussionen herausgelöst und damit einhergehend viele der von ihnen verwendeten und geprägten Begriff e umgedeutet. Genauso wichtig war aber vor allem die Vereindeutigung ihrer Manuskripte und Schriften zu kohärenten „Werken“. Bewusst greife ich den jüngst von dem Islam-wissenschaftler Thomas Bauer prominent gemachten Begriff der Vereindeutigung auf.4

      Engels und Marx waren keineswegs Begründer einer in sich geschlossenen Theorie, einer Art politischer Weltanschauung, die letztlich eine Sprache der Macht und des Protestes bereithielt. Ihr Œuvre hat vielmehr fragmentarischen Charakter. Weder als Revolutionäre noch als Analytiker des Kapitalismus haben sie ein abgeschlossenes oder ein zumindest in sich geschlossenes Werk hinterlassen. So sind Marx’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 18445 eine Mischung von wörtlichen Buchexzerpten und eigenen Notizen, aber nicht der erste Entwurf eines geplanten Buches. Marx’ und Engels’ Manuskripte der Deutschen Ideologie von 1845/466 waren zwar tatsächlich Entwürfe, aber nicht für ein Buch, sondern für die Beiträge einer geplanten Zeitschrift. Ein solches Buch hatten sie nie geplant. Und der erste Band des Kapital, der einzige, der zu Marx’ Lebezeiten erschien, stellt nur ein Bruchstück der Marx’schen ökonomischen Manuskripte dar. Die heute als Band 2 und 3 des Kapital bekannten Bücher stellte Engels bekanntlich erst nach Marx’ Tod mit großer Mühe aus den unfertigen Manuskripten zusammen.7 Marx’

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