Aareschwimmen. Tony Dreher
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Читать онлайн книгу Aareschwimmen - Tony Dreher страница 2
Die beiden weißhaarigen Männer verdrehten gleichzeitig ihre Augen.
»Glauben Sie mir, dieser Kerl lebt nicht mehr. Er atmet nicht, und Puls hat er auch keinen«, sagte derjenige, der neben der Leiche kniete. »Rufen Sie lieber die Polizei. Die Leiche zu beatmen bringt nichts mehr, dazu ist es zu spät. Aber nur zu, falls Sie es versuchen möchten.«
Ein Raunen ging durch die Gruppe, und die Vorschläge aus der Runde verstummten. Der Gedanke, eine nasse Leiche zu beatmen, war für ein junges, verliebtes Paar neben Mike doch etwas zu makaber. Beide schnitten eine Grimasse und liefen Hand in Hand eilig flussaufwärts davon. Erst jetzt fiel Mike hinter den Herumstehenden das kleine Mädchen auf, das mit dem Rücken an einen Baum angelehnt alleine im Gras saß. Es hielt beide Arme um seine angezogenen Knie und schluchzte leise vor sich hin.
Erst als er vor ihm niederkniete, schaute es unter seiner roten Baseballkappe auf. Er zeigte mit dem Finger auf das Badekleid des Mädchens und sagte mit sanfter Stimme: »Das ist aber ein schönes blaues Badekleid, das du da trägst. Mir gefällt der Delfin darauf. Delfine sind meine Lieblingstiere.« Es hörte auf zu schluchzen und musterte ihn mit seinen blaugrünen Augen.
Er setzte sich zu ihm ins Gras und sprach weiter. »Ich heiße Mike. Wer bist du?«
»Ich bin das Mädchen, das den Mann im Wasser gefunden hat«, antwortete es scheu.
Mike rückte näher.
»Was? Was hast du?«
»Ich habe den Mann da gefunden.«
Es zeigte mit seinem rechten Zeigefinger mitten in die Menschenmenge.
»Wie hast du ihn denn gefunden?«
»Ich habe Ball gespielt und bin dann meinem Ball nachgerannt, denn ich wollte nicht, dass er in den Fluss rollt. Dort, hinter dem Busch, ist er stehen geblieben. Als ich ihn aufnehmen wollte, sah ich … dann sah ich … den Mann …« Es begann wieder zu schluchzen.
»Du sahst den Mann im Wasser liegen?«, fragte Mike erstaunt.
Es zog seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und antwortete nicht. Mike sah den Schock des Erlebten in sein zartes Gesicht geschrieben.
»Wie heißt du denn? Wie alt bist du?«, fragte er, als es sich etwas beruhigt hatte.
»Ich heiße Elvira und bin«, es schaute ihm in die Augen und hielt ihm seine kleine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen. »Ich hatte letzte Woche Geburtstag und jetzt bin ich schon groß.«
»Wo sind denn dein Papa oder deine Mama?«
Es senkte seinen Blick zum Boden. »Ich habe keine Mama mehr«, antwortete es traurig. »Meine Tante liegt auf der großen Wiese in der Sonne. Sie hat gesagt, ich darf nicht weit weggehen. Jetzt muss ich zu ihr zurück, sonst schimpft sie mit mir.«
Er bot ihm seine Hand an. »Komm, gehen wir zusammen. Ich begleite dich gerne zurück zu deiner Tante.«
Elvira stand auf und kreuzte demonstrativ beide Arme vor ihrem Körper. »Mein Papa sagt mir immer, dass ich nicht mit Fremden gehen darf. Ich darf auch nicht mir dir gehen, denn du bist ein Fremder. Ich gehe alleine zurück. Das kann ich schon, denn ich bin jetzt schon«, sie hielt ihm wieder ihre Hand mit fünf ausgestreckten Fingern entgegen.
»Warte! Ich habe noch Fragen und würde gerne mit dir weiterplaudern«, versuchte Mike sie aufzuhalten.
»Nein. Ich muss jetzt zurück.«
Bevor Mike noch etwas hinzufügen konnte, rannte sie bereits weg zur großen Liegewiese des Freibads, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er verlor sie in der Menge der sonnenbadenden Familien aus den Augen.
Eigentlich hätte er den ganzen Nachmittag im Marzili verbringen wollen, musste aber bald ins Büro. Nur Hans Werdenberger, sein Ressortleiter, konnte am Nationalfeiertag der Schweiz eine Sitzung auf 16.30 Uhr festlegen, dachte er verärgert. »Keine Diskussion, Honegger«, hatte er ihn gestern mit erhobenem Zeigefinger gewarnt und ihn mit runzliger Stirn und großen Augen über seine Lesebrille angestarrt. »Ich erwarte Sie morgen pünktlich um halb fünf in meinem Büro. Die Welt steht auch an einem Feiertag nicht still! Zeigen Sie mir dann, wie weit Sie mit den Artikeln zur Geschichte der Berner Vororte sind. Sie schreiben jetzt schon lange genug daran. Zu meiner Zeit hätte ich als 25-Jähriger wie Sie die acht Artikel bereits nach einer Woche abgeliefert. Und das mit Schreibmaschine getippt, ohne Computer und Wikipedia! Bis Ende der Woche will ich die Serie endlich fertig sehen oder Sie bekommen noch mehr Ärger mit mir!«
Mike blickte auf seine Uhr. Kurz vor vier Uhr. Er musste sich spätestens jetzt umziehen, um noch die geringste Chance zu haben, rechtzeitig vor Werdenberger zu erscheinen. Die Zeit würde schon so knapp.
Vor ihm bot sich aber eine einmalige Gelegenheit. Als erster und einziger Journalist vor Ort über den Fund einer Leiche in der Aare zu berichten – nein, diese Gelegenheit durfte er wegen einer Sitzung mit seinem Chef doch nicht vergeben. Er musste unbedingt herausfinden, was sich am helllichten Tag hier ereignet hatte und durfte nichts verpassen, was ihm dabei helfen würde. Er blickte auf seine Badehose. Sein Handy, sein Portemonnaie und seine Schlüssel hatte er in einem Schließfach bei der Kasse am Eingang des Freibads eingeschlossen. Sein Handy zu holen, um Werdenberger anzurufen, würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Wieder zögerte er nicht. Der Anruf musste warten. Mike würde hier bleiben und verspätet bei Werdenberger erscheinen.
Inzwischen war die Anzahl der Gaffer etwas zurückgegangen. Sie hatten den Toten gesehen, der Kick war vorbei. Die verbleibenden hielten respektvoll Abstand von der Leiche, die jemand mit einem großen Badetuch zugedeckt hatte. Niemand beachtete Mike, als er sich ihr näherte. Das grüne Badetuch wölbte sich über den Bauch des toten Mannes wie ein kleines Zelt. Er schmunzelte, als er die Werbeaufschrift unter dem Logo eines bekannten Matratzenherstellers auf dem Tuch las, ›für den ewigen Schlaf …‹. Ja, dachte er, dieser Mann hatte in der Aare tatsächlich seinen ewigen Schlaf angetreten. Wer war er? Niemand schien ihn zu kennen. Hatte er einen Herzschlag erlitten? Dann wäre er nicht ins Wasser gefallen. War er Nichtschwimmer und versehentlich ins Wasser gefallen? Nicht am Uferweg der Aare.
Die beiden Dickbäuchigen standen im Schatten eines Baums und rauchten gemütlich eine Zigarette. Auch sie beachteten Mike nicht, so kniete er vor der Leiche nieder und inspizierte den linken Arm, der vom Badetuch nicht verdeckt war. Um sein Handgelenk trug der Mann eine Uhr und am Ringfinger einen großen goldenen Ring. Mike studierte den Ring genauer, ohne den Toten zu berühren.
»Treten Sie weg da!«
Er erschrak ob der lauten, tiefen Stimme und blickte auf. Von ihm unbemerkt hatten uniformierte Polizisten damit begonnen, bis zur Ankunft des kriminaltechnischen Diensts die Neugierigen zurückzudrängen und die Stelle abzuschirmen. Ein großer, athletisch wirkender Polizist mit breiten Schultern postierte sich vor ihn.
»Treten Sie weg, habe ich gesagt!«, brüllte er.
Mike stand auf und nahm einen Schritt zurück.
»Haben Sie die Leiche gefunden?«, doppelte der Polizist nach.
»Nein.«
»Was tun Sie dann hier?«
»Ich, äh, bin Journalist«, antwortete Mike verlegen.
Der Polizist starrte ihn an, als ob er eine ausführlichere Erklärung von ihm erwartete.