Aareschwimmen. Tony Dreher

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Aareschwimmen - Tony Dreher

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Beamtin hat sie ins Institut für Rechtsmedizin geschickt.«

      »Die Rechtsmedizin in der Länggasse kommt immer zum Zug, wenn eine Person nicht eines natürlichen Todes stirbt. Auch wenn der Mann verunfallt sein sollte, die Polizei will die genaue Todesursache herausfinden.«

      »Ich sag’s ja. Etwas stimmt nicht.«

      »Das ist nur eine Vermutung. Vergiss lieber deinen Termin morgen nicht, Mike. Der ist jetzt wichtiger als dein Erlebnis heute Nachmittag. Was ist übrigens mit deiner Artikelreihe los? Warum bist du damit noch nicht fertig?«

      »Ich weiß es auch nicht. Ich recherchiere dafür schon lange, aber eine Artikelreihe über die Geschichte der Vororte von Bern begeistert mich einfach zu wenig. Mein Vater war zwar Historiker, aber mich interessiert Schweizer Geschichte oder Weltgeschichte. Bei den Vororten der Stadt harzt es einfach noch und ich schiebe die Arbeit ohne Inspiration so vor mich her. Komme einfach nicht vom Fleck.«

      »Das habe ich auch schon erlebt. Öfters als mir lieb ist, glaube mir. Aber höre auf meinen Rat! Wenn du morgen von Werdenberger nicht zermalmt werden willst, so packe die Artikel heute Nacht noch an! Bis morgen früh kannst du einiges hinkriegen. Musst halt die ganze Nacht durcharbeiten. Es ist deine einzige Rettung.«

      »Ich werde ihm einen Artikel über den Toten bringen.«

      »Nein, Mike, tue das nicht! Du kennst ja den Werdenberger. Er möchte genau das sehen, was er bestellt hat. Nie mehr und nie weniger.«

      »Schon okay. Danke für den Rat.«

      Mike öffnete im Computer den Entwurf eines seiner Artikel, trank von der Eisteeflasche und starrte auf den Titel: ›Die Geschichte des Berner Vororts Ostermundigen‹. Er las den Entwurf mehrmals durch, in der Hoffnung, so in Gang zu kommen. Unbewusst richtete er wiederholt seinen Blick über den Bildschirm durch das Fenster zum gegenüberliegenden Block, der genau so grau war wie seiner.

      Die Polizei hatte den Vorfall an der Aare erfasst. Die Beamtin hatte vom Polizisten sogar dringend einen Bericht verlangt. ›Vor sechs‹, hatte sie ihm befohlen. Wenn die Meldung beim Zeitungsverlag nicht eingegangen war, so musste sie wenigstens von der Polizei selbst veröffentlicht worden sein. Er öffnete die Website der Kantonspolizei Bern und durchsuchte den Bereich Aktuelles. Autounfälle, Diebstähle, Einbrüche. Das heute leider Übliche. Von einem Ertrunkenen in der Aare war aber nichts zu lesen. Auf den Websites von Boulevardblättern und Pendlerzeitungen war auch nichts zu erfahren. Niemand hatte über den Vorfall berichtet.

      Draußen im Hof krachten die ersten Knallkörper, am Himmel explodierten Raketen in allen Regenbogenfarben. Die Schweiz feierte ihren ersten August.

      Früh am nächsten Morgen machte Mike auf dem Weg ins Büro zuerst halt am Kiosk nebenan. Zu einem lauwarmen, wässrigen Industriekaffee in einem wackligen Plastikbecher durchforstete er an einem Stehtischchen die aktuellen Tageszeitungen und suchte nach Berichten über die Ereignisse von gestern. Keine der Zeitungen hatte über einen ertrunkenen Mann in der Aare geschrieben. Gestern war zwar ein Feiertag gewesen, trotzdem hätten die Zeitungen heute darüber berichten können. Der Tod eines Menschen war ja immer ein beliebtes Thema für Schlagzeilen. Dass keine Zeitung darüber schrieb, war zwar merkwürdig, bedeutete aber auch, dass er weiterhin exklusiv berichten konnte.

      »So nicht, Honegger!« Hans Werdenbergers Wut hatte über Nacht nicht abgenommen. »Haben Sie von mir in Sachen Pünktlichkeit und Genauigkeit im Leben noch gar nichts gelernt? Wie oft muss ich mich denn wiederholen?«

      Mike kannte Werdenberger gut genug, um zu wissen, dass er die Rede, die folgte, ohne ein Wort zu erwidern über sich ergehen lassen musste. Es schien ihm trotzdem eine Ewigkeit, bevor Werdenberger seufzte und endlich fragte: »Also, warum sind Sie gestern nicht aufgetaucht?«

      Mike erklärte ihm detailliert, was vorgefallen war und weshalb er sich nicht gemeldet hatte. Dann legte er ihm stolz den Artikel über den Fund der Leiche in der Aare auf sein Pult. Werdenberger hörte mit grimmiger Miene zu und ignorierte den Artikel. Als Mike fertig war, sagte er: »Sie sind also nicht aufgetaucht, weil Sie glaubten, ein ertrunkener Mann sei für unsere Zeitung ein passendes und interessantes Thema? Sind wir denn nicht mehr eine angesehene Zeitung mit langer Vergangenheit, die für sich in Anspruch nimmt, hochkarätigen Journalismus zu bieten? Sind wir neuerdings zu einem Boulevardblatt verkommen, das mit persönlichen Katastrophen auf der Titelseite ihre Leser verführt? Und glauben Sie wirklich, das rechtfertige, einen Termin mit mir ohne Abmeldung platzen zu lassen?«

      »Ich denke, er wurde ermordet!«, versuchte Mike sich zu rechtfertigen.

      Werdenberger begann mit den Händen zu gestikulieren. »Sehen Sie, das ist ja noch schlimmer. Jetzt spekulieren Sie schon über die Todesursache. Was ist denn das für ein Niveau? Es ist sicher nicht das Niveau, das zu unserer traditionsreichen Tageszeitung passt! Dazu kommt noch, dass Sie den Auftrag, den ich Ihnen gegeben habe, nämlich eine Artikelserie zu schreiben, immer noch nicht ausgeführt haben. An fehlender Zeit scheint es ja nicht zu liegen, wenn Sie in der Aare baden gehen können und Wegwerf-Gesellschafts-Artikel wie diesen schreiben können!«

      Er stand hinter seinem Pult auf, ging zum Fenster und blickte lange hinaus.

      »Nein, Honegger. Wir wissen beide seit einiger Zeit, dass wir nicht zusammenpassen. Suchen Sie sich eine Stelle bei einer Gratiszeitung. Dort können Sie in fünf Zeilen etwas über Mordfälle spekulieren, das jeder Pendler im Halbschlaf am Morgen im Zug konsumieren kann und nicht mehr als einen Grundwortschatz von 100 Wörtern voraussetzt. Aber nicht hier und nicht bei mir. Die Fortsetzung unseres Arbeitsverhältnisses ist aus meiner Sicht nicht mehr zumutbar. Es wäre also besser, wenn Sie Ihr Pult räumten. Sie haben eine Stunde Zeit, dann will ich Sie nicht mehr sehen. Das wäre alles. Sie können gehen.«

      Seine Arbeitskollegen waren schockiert, als Mike ihnen kurz mitteilte, dass Werdenberger ihn soeben gefeuert hatte. Da dieser aber mit gekreuzten Armen unter dem Türrahmen seines Büros stand und wie ein Feldherr auf sein Schlachtfeld in das Großraumbüro starrte, getraute sich niemand, was zu sagen. Einzig Verena nahm ihr Headset ab und flüsterte ihm mit einem Lächeln voller Mitleid zu: »Ich rufe dich an.«

      Mike ging zu Fuß zum Bahnhof, wo er sich auf dem Vorplatz an einen Restauranttisch setzte und einen Kaffee bestellte. Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Den Generationenunterschied zwischen ihm und Werdenberger hatte er schon seit Langem gespürt, wie seine Kollegen und Kolleginnen auch, und sie hatten auch nie richtig harmoniert. Dass er ihn jedoch feuern würde, hätte er nie gedacht. War er wirklich zu weit gegangen? Auch nach langem Überlegen beurteilte er seinen gestrigen Entscheid weiterhin als richtig. Als Journalist musste er jede Gelegenheit packen, um über Außergewöhnliches zu berichten, wann und wo immer sie sich auch bot, Sitzungstermine hin oder her. Er bestellte einen zweiten Kaffee. Den Toten in der Aare würde er nicht loslassen, dazu war er jetzt erst recht entschlossen. Er würde dem Fall nachgehen, herausfinden, wer der Mann war und einen erstklassigen Artikel darüber schreiben. Damit würde er eine neue Stelle suchen.

      Die Polizeiwache Bern steht nicht weit vom Bundeshaus entfernt am Waisenhausplatz, in einem dreistöckigen, palaisähnlichen Gebäude, das bis fast Mitte des letzten Jahrhunderts als Knabenwaisenhaus diente.

      »Wie kann ich Ihnen helfen?« Ein korpulenter Mann mit kurz geschorenen Haaren inspizierte Mike mit seinen kleinen schwarzen Augen durch das Panzerglas des Empfangsschalters. Sein abschätziger Blick verriet ihm, dass er von Mikes Jeans und T-Shirt nicht viel hielt.

      »Ich bin Journalist und arbeite bei den ›Berner Nachrichten‹. Ich recherchiere den Todesfall von gestern im Marzili. Wem kann ich dazu einige Fragen stellen?«

      »Wer

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