Die Lehren der Zeugen Jehovas. Lothar Gassmann
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Das nächste „Meisterstück“ betraf das Herausgeber-Komitee. Um Mitglied im Herausgeber-Komitee zu werden, musste man in die Bethel-Familie eintreten (das ist die Mitarbeiter-Gemeinschaft in der Brooklyner Wachtturm-Zentrale) und dort für ein Taschengeld arbeiten. Anderweitige berufliche Bindungen waren aufzugeben. Dazu aber war nicht jeder bereit, auch nicht alle von Russell vorgeschlagenen Komitee-Mitglieder. Zwei Kandidaten, William A. Page und E. W. Brenneisen, schieden deshalb von vornherein aus – „Page, weil er seinen Wohnsitz nicht nach Brooklyn verlegen konnte, und Brenneisen … weil er eine weltliche Arbeit annehmen musste, um seine Familie zu ernähren“ (JZ, S. 65). An deren Stelle rückten dann Robert Hirsh und J. F. Rutherford nach. Sie wurden vom Direktorium ausgewählt, das somit eine Vorrangstellung vor dem Herausgeber-Komitee erhielt.
Nachdem Rutherford dem siebenköpfigen Direktorium und dessen dreiköpfigem Ausschuss bereits angehört hatte, gelangte er nun auch noch beim Herausgeber-Komitee in die erste Reihe der Macht. Bereits seit Jahren hatte er die juristische Arbeit für die Wachtturm-Gesellschaft vorgenommen und dadurch tiefen Einblick in deren Strukturen erlangt. Dies half ihm beim weiteren Aufstieg. Auf Betreiben Rutherfords kam es immer mehr zu einer Zentralisierung der Leitung, und zwar in seiner Person. So war es kein Wunder, dass er bei der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 auf Anraten des Direktoriums-Mitglieds A. N. Pierson zum Nachfolger Russells und Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft gewählt wurde. Diese Wahl wurde aber nicht von allen widerspruchslos hingenommen. Doch bevor wir uns mit den Auseinandersetzungen beschäftigen, werfen wir zuerst einen Blick auf Rutherfords Persönlichkeit.
Joseph Franklin Rutherford wurde am 8. November 1869 auf einer Farm in Morgan County/Missouri geboren. Seine Eltern waren Baptisten. Mit 16 Jahren besuchte er ein College, um Rechtswissenschaften zu studieren. Mit 20 Jahren fungierte er bereits als Protokollführer für die Gerichte des 14. Gerichtsbezirks in Missouri. 1892 wurde er als Rechtsanwalt in Missouri zugelassen. Er eröffnete eine Praxis in Boonville und wurde Prozessanwalt der Firma Draffen und Wright. Später war er als Staatsanwalt und vertretungsweise auch als Sonderrichter am Gericht des achten Gerichtsbezirks von Missouri tätig. Von dieser Tätigkeit als Sonderrichter her wandte er den Titel „Richter“ auf sich an. Von seinen Anhängern wurde er – nicht ganz korrekt – als „Richter Rutherford“ bezeichnet, ähnlich wie Russell den Titel „Pastor“ für sich in Anspruch nahm. Als Jurist war Rutherford so erfolgreich, dass er ermächtigt wurde, Rechtsfälle vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington D. C. zu führen. Von 1909 bis zu seinem Tod fungierte er als Staatsanwalt in New York, zum Teil noch neben seiner Präsidentschaft der Wachtturm-Gesellschaft her.
1894 hatte Rutherford von zwei Anhängerinnen Russells an der Haustür drei Bände der „Schriftstudien“ (damals noch „Millennial Dawn“) erhalten, was sein Interesse an dieser Bewegung weckte, doch sollte es bis zu seiner „Taufe“ noch bis zum Jahre 1906 dauern. Seit 1907 schließlich war er als Rechtberater der Wachtturm-Gesellschaft tätig, wobei er den zunehmend kränklicher werdenden Russell auch „theologisch“ bei Auftritten und Disputen vertrat. Als Rechtswahrer aller Angelegenheiten der Wachtturm-Gesellschaft besaß er die höchste juristische Gewalt und war schon längst de facto Vertreter Russells, auch wenn er nachher unter den Komitee-Mitgliedern nur in zweiter Reihe genannt wurde.
Ein Beispiel, wie skrupellos und gerissen Rutherford vorgehen konnte, macht ein Vorfall aus dem Jahre 1915 deutlich, das Hellmund erwähnt. J. H. Troy war ein baptistischer Prediger aus Südkalifornien. Er forderte Russell zu einer öffentlichen Diskussion heraus. Russell führte öfter Diskussionen mit Vertretern der Kirchen. Diesmal aber war er gesundheitlich verhindert. Rutherford nahm stellvertretend die Herausforderung an. Nun war 1915 ein ziemlich schwieriges Jahr für die Ernsten Bibelforscher. Die Voraussagen für das Jahr 1914 waren nicht eingetroffen. Troy hatte also alle Trümpfe in seiner Hand.
Aber Rutherford gab sich nicht verloren. Er einigte sich mit Troy schriftlich darauf, dass jeder tausend Dollar als Garantie dafür hinterlegen solle, dass man nicht über persönliche Dinge diskutiere. Man durfte Russell nicht mit Schmutz bewerfen, was etwa wegen seiner Ehe häufig in der Öffentlichkeit geschah. Troy ging darauf ein in der Meinung, man könne dann wirklich sachlich diskutieren.
Nun aber bestellte Rutherford Troy drei Minuten vor Beginn der Diskussion in den Nebenraum des Saales und erinnerte ihn daran, „dass wir uns kraft einer Garantie von 1.000 Dollar verpflichtet haben, davon Abstand zu nehmen, Personen anzugreifen“. Darauf fragte Troy: „Ja, darf ich Russell nicht einmal erwähnen?“, worauf Rutherford antwortete: „Nein, sonst sind sie ihre 1.000 Dollar los.“ Troy war nun völlig verunsichert und wirkte in der Diskussion farblos und blass. Die gescheiterten Terminberechnungen Russells konnten nicht mehr ins Feld geführt werden.
Der Umgang mit der 1914-Krise
Als Rutherford Präsident der Wachtturm-Gesellschaft geworden war, hatte er drei Aufgaben zu erfüllen: Erstens musste er Reformen organisatorischer Art durchführen, vor allem die Werbearbeit neu beleben. Die Ernsten Bibelforscher hatten ja durch die Enttäuschung von 1914 und die Skandale um Russell schwere Rückschläge erlitten. Zweitens – und das hängt eng mit dem ersten Punkt zusammen – musste er die Vergangenheit bewältigen, vor allem die unglaubwürdig gewordenen Zeitprophezeiungen „korrigieren“ und auch den Personenkult, der sich um Russell gebildet hatte, modifizieren – das heißt: ihn von Russell wegnehmen und auf die Wachtturm-Gesellschaft übertragen, die mehr und mehr von Rutherford repräsentiert wurde. Drittens musste er mit menschlichen Problemen, vor allem mit Mitarbeitern und Konkurrenten fertig werden. Es existierten Mitkonkurrenten um das höchste Amt der Gesellschaft, und Rutherfords Präsidentschaft war anfangs keineswegs unangefochten. Diese Kämpfe dauerten ungefähr ein Jahr lang sehr vehement an.
Das erste war die organisatorische Reform und Belebung der Werbearbeit. Rutherford erhöhte die Zahl der sogenannten „Pilgerbrüder“, Kolporteure und Pioniere, die als Missionare oder Zeitschriften-Verteiler dienten, sehr stark. Die bisher nur lose miteinander verbundenen Versammlungen oder „Ekklesias“ wurden zentralisiert und mit Dienstanweisungen aus der Brooklyner Zentrale versehen. Große Kongresse wurden veranstaltet. Die gesamte Organisation wurde gestrafft. Dies führte zu einem riesigen Anwachsen der „Bibelforscher“-Bewegung unter Rutherford und seinen Nachfolgern.
Das zweite war die Vergangenheitsbewältigung. Das Schrifttum Russells musste umgedeutet werden. Die nicht erfüllten Prophezeiungen waren auszutilgen oder zu aktualisieren. Wenn man von den Original-Fassungen Russells ausgeht, muss man hier von Fälschungen sprechen. Beispiele hierfür werden wir noch kennenlernen. Ein weiterer Kunstgriff Rutherfords war die Herausgabe von Band 7 der Schriftstudien. Aufzeichnungen, die Russell hinterlassen hatte, wurden von Rutherfords Mitarbeitern George H. Fisher und Clayton J. Woodworth zusammengestellt, aktualisiert und erweitert. Vieles wurde vermutlich völlig neu geschrieben. Der Titel dieses Bandes lautete Das vollendete Geheimnis. Die Kelter des Zornes Gottes und der Fall Babylons (1917).
In den Bänden 1 bis 6 der Schriftstudien wurden beispielsweise die Jahreszahlen teilweise verändert. Einige Beispiele möchte ich hier zitieren. Ich nenne Unterschiede zwischen der Auflage von 1914 und der Neuauflage von 1926 des Bandes Dein Königreich komme. In diesem Band setzt Russell die biblische Chronologie parallel zu den Maßen der Cheops-Pyramide und führt im Jahr 1914 aus:
„Diese Berechnung zeigt das Jahr 1874 n. Chr. an, als den Anfang der Periode der Trübsal markierend; denn 1542 v. Chr. plus 1874 n. Chr. macht 3416 Jahre. So bezeugt die Pyramide, dass der Schluss des Jahres 1874 der chronologische Anfang der Zeit der Trübsal war“ (S. 327).
In der Neuausgabe