Resli, der Güterbub. Franz Eugen Schlachter
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Aber nach ihrer zweiten Verheiratung sah sie sich bald bitter getäuscht und lernte das Wort der Schrift verstehen: „Verflucht ist, wer sich auf Menschen verlässt und Fleisch für seinen Arm hält.“ Mit einem Male war sie nun Mutter von sieben Kindern geworden. In der neuen Heimat, auf die sie sich vertröstet, fand sie, als sie mit ihren drei Kindern einzog, alles öd und leer. Als das Wenige, was sie noch mitgebracht hatte, aufgezehrt war, ging das Hungern an. Die vier hungrigen Wölfe, deren Stiefmutter sie geworden, nahmen ihren eigenen Kindern die Speise vom Munde weg. Resli, so hieß ihr Jüngster, wurde vom Stiefvater manchmal ungegessen mit den Ziegen auf die Weide geschickt.
O, wie oft hat er da gewünscht, wenn er nur auch eine Ziege wäre, damit er doch Gras essen und so wenigstens wieder einmal seinen Hunger stillen könnte! Einmal, im Herbst, saß der sechsjährige Knabe am Saume des Waldes. Während die glücklichen Ziegen ihr Futter suchten, weinte Resli bitterlich, weil der Hunger ihn plagte. Endlich fing er an zu beten, das hatte ihn ja die Mutter gelehrt: „O treuer Gott, in meiner Not ruf‘ ich zu Dir!“ Und sieh‘, da kam eine Frau aus dem Wald mit einem Korb am Arm. Ob sie den Knaben gehört hatte, oder ob Gottes Geist sie unbewusst dazu trieb, sie stellte den Korb ab, nahm einen Laib Brot herunter, groß genug, um seinen Hunger damit zu stillen.
Aber nicht genug an dem, dass die armen Kinder hungern mussten, ihre Mutter musste auch Zeuge davon sein, wie der Stiefvater, ein rauer, grober und selbstsüchtiger Mann, sie lieblos behandelte, und wie sie ihm überall im Wege waren. Dass er seine eigenen Kinder nicht viel besser behandelte, war kein besonderer Trost. Diese hielten sich auch darnach; wie der Baum, so die Frucht. Sie waren wild und unbändig, konnten weder lesen noch beten, dafür hatten sie das Fluchen umso besser los. Es wollte der Mutter das Herz brechen, dass ihr Resli solche Buben zu seinen Brüdern und Vorbildern bekommen hatte; denn sie waren älter als er, und er musste ihnen folgen, oder sie schlugen ihn. Das erste Mal, als sie mit ihm die Ziegen hüteten, sagten sie dem arglosen Jungen die schrecklichen Flüche vor, er musste sie ihnen nachsprechen; zuerst tat er`s gezwungen, nach und nach aber gewöhnte er sich daran. Sie belehrten ihn über die schändlichsten Dinge, so dass sein jugendliches Herz nach und nach von der Sünde vergiftet ward.
Nach zweijährigem Ehestand erklärte der Stiefvater seiner Frau, er könne ihren Kindern nicht mehr länger zu essen geben, sie müssten auf die Gemeinde. Seine zweite Verheiratung hatten die Gemeindebehörden ihm nur unter der Bedingung gestattet, dass er zwei Jahre lang die drei Kinder seiner zweiten Frau bei sich behalte. Er hielt sein Versprechen pünktlich, denn es waren gerade zwei Jahre seit der Hochzeit verflossen, als die Mutter unter Tränen den drei Kindern ihre wenigen Habseligkeiten in Bündeli zusammenschnürte und schluchzend den Weg zum Schulhaus unter die Füße nahm. Den Gang haben die Kinder in ihrem Leben nie vergessen. Besonders Resli, dem Jüngsten, schien der Gedanke an die Trennung von der Mutter unmöglich zu sein, denn er hing mit ganzer Seele an ihr, und die Tränen der Mutter, die auf dem ganzen Weg ins Dorf hinunter das Gesicht im Lumpen verbarg, redeten laut in die Kinderherzen hinein. Hier saß sie nun mit ihren Würmlein und wartete der Stunde, die ihr das Liebste, was sie auf Erden noch hatte, vielleicht für immer vom Herzen reißen sollte. Doch nein, man kann die Kinder wohl von einer Mutter trennen, aber von ihrem Herzen reißt sie keine Kreatur; eine Mutter, wenigstens eine solche, wie Resli eine hatte, liebt ihre Kinder bis in den Tod.
Mit diesem festen Entschluss, ihre Kinder im Herzen zu behalten, auch wenn sie ihr nun entrissen würden, trat die Mutter mit ihnen in die Schule hinein, als es 9 Uhr schlug. Ach, was bot sich da ihrem feuchten Auge für ein trauriger Anblick dar! Eine solche Verdinggemeinde ist eine Gelegenheit, wo alles Elend einer ganzen Gemeinde zusammenströmt. Alte, gebrechliche Leute werden da von ihren eigenen Kindern hergebracht, damit die Gemeinde sie versorgt oder ihnen ein Kostgeld für sie zahlt. Leichtsinnige Personen werfen hier der Gemeinde ihre armen Würmlein in den Schoß, die oft genug büßen müssen, was ihre gewissenlosen Väter verschuldet haben. Blinde und Taubstumme, Missgeburten und vergleichgültigte6 Geschöpfe, beschränkte und verkrüppelte Personen, die ihr Brot nicht selber verdienen können, werden da zusammengeschleppt, dass es aussieht, wie am Teich Bethesda. Dazu kommen dann erst noch die eigentlichen Waisenkinder, und es fehlt auch nicht an solchen Eltern, welche von ihrem reichen Kindersegen schon während ihren Lebzeiten der Gemeinde gerne eine Abtretung machen würden.
Die Verdinggemeinde zu Kurzenwyl wickelte an jenem Tage ihre Geschäfte in zwei Akten ab. Der erste Akt war die Musterung, der zweite die Versteigerung. Gemustert wurden diejenigen Kinder und Pfleglinge, welche bisher schon von der Gemeinde verkostgeldet gewesen waren. Ihre Meister und Pflegeeltern hatten sie zu diesem Zweck in sauberer Kleidung vor die Gemeindsbehörde zu stellen, damit diese sehen könne, ob sie ihre Sache haben. Nachdem dieser weniger wichtige Teil der Tagesordnung erledigt war, ging man zur Versteigerung der Neuzuversorgenden über. Diese las nun der Gemeindeschreiber der Reihe nach aus seinem Armenrodel7 ab. Reslis Schwestern waren unter den ersten, die an die Reihe kamen. Sie wurden in ein Dorf verdingt, zwei Stunden von der Heimat entfernt. Es war der Mutter ein Trost, dass die beiden Mädchen wenigstens nicht auseinander gerissen wurden, und als sie weinen wollte und jammern, dass sie so weit fort kämen von ihr, sagte der Mann, der sie ersteigert hatte: „Häb nit Chummer, es geiht `ne nit übel by mir, mys Bäbi isch nit öppe die leidischt Meisterfrau und mir hei scho z`ässe für sie. Es isch de nit, dass mir sie näh wegem Chostgeld, mir hei vill z`werche u Ching z`gaume, u cheu fettig Meitscheni bruuche.“8
„Andreas Balli!“ tönte es jetzt vom Richterstuhl des Gemeindeschreibers herab, der im Ablesen der zu verdingenden Kinder weiter fuhr. Aller Augen richteten sich auf den Knaben, der sich krampfhaft an der Mutter festhielt und aus Leibeskräften schrie: „Mutter, Mutter, lass mich nicht, ich bin Dein!“
„Wer will den Knaben nehmen?“ fragte der Präsident. „Man muss ihn hie und da in die Schule schicken, nebenbei kann er hüten und werchen9 was man will; wenn er schon jung ist, er hat arbeiten gelernt.“
Ein alter freundlicher Mann trat vor. „Der Bub gefällt mir“, sagte er. „Er dauert mich, dass er die Mutter verlassen muss, aber ich will ihm ein Vater sein. Zu werchen habe ich nicht viel, aber seitdem mir mein Fraueli gestorben ist, macht meine Tochter die Haushaltung, und weil sie taubstumm ist, so muss ich jemand haben, der mir die Kommissionen10 macht und die Sachen zuträgt. Wenn der Bub das besorgt und ein wenig holzen kann Winterszeit, so darf er meinetwegen daneben in die Schule gehen, so viel er will.“
Der Mutter war es, als ob ihr ein Stein vom Herzen fiele, der Alte machte einen guten Eindruck auf sie. Dem Präsidenten ging es ebenso. „Du kannst ihn haben“, sagte er zu ihm, „wenn du nicht zu viel verlangst.“
„Versprecht mir 30 Franken, so will ich ihn ein Jahr lang nähren und kleiden dafür.“
„Verlangt jemand der Anwesenden weniger für das Kind?“ Alles blieb mäuschenstill. Nur der Knabe wimmerte leise und verbarg in der Schürze der Mutter sein Gesicht.
„So nimm ihn!“ sagte der Präsident zu dem alten Mann; „du wirst wohl keinen großen Profit machen; er sieht verhungert genug aus; es braucht schon etwas, bis er zweggefüttert11 ist.“
„Mutter, Mutter!“ schrie der Knabe und brach in lautes Schluchzen aus; „lass mich nicht, ich bin dein!“
„Schweig du nur, Resli“, beschwichtigte die Mutter, „ich geh` mit dir.“ – Die beiden verließen das Zimmer, und der Alte trappete ihnen nach. „Kommt“, sagte er, „wir wollen in die „Sonne“ hinübergehen, ich will eine