Sag niemals, das ist dein letzter Weg. Jetta Schapiro-Rosenzweig
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Ich hatte mich inzwischen an das Unglaubliche unserer Lage gewöhnt und versuchte, mich in ihr zurechtzufinden. Ich beschloss, mich nach Wilna zu wagen und mich nach meiner Familie dort umzusehen. Am nächsten Morgen stand ich ganz früh auf. Um mich so unkenntlich wie möglich zu machen, band ich mein Haar mit einem Kopftuch zusammen und machte mich auf den Weg. Von Ponar nach Wilna sind es etwa zehn Kilometer. Die Straßen waren voller deutscher Soldaten. Ein deutscher Motorradfahrer fuhr so dicht an mir vorbei, dass er mich fast überfuhr. Ich bekam einen furchtbaren Schrecken und mir entfuhr eine Verwünschung: »Ein schneller Tod soll ihn ereilen!«
In diesem Augenblick stürzte der Motorradfahrer und war auf der Stelle tot. Ich ging schneller und schaute mich nicht um – ich hatte Angst, dass man mich einholen und beschuldigen würde, an seinem Unfall schuld zu sein.
Der Weg war lang und anstrengend. Als ich morgens in der Stadt ankam, ging ich sofort zur Wohnung meiner Eltern. Sie wohnten damals in der Ignatova-Straße. In der Wohnung fand ich nur meine Mutter und Frau Bak, die Mutter des Ehemannes meiner Schwester. Beide Frauen sahen um zwanzig Jahre gealtert aus. Meine erste Frage war: »Wo sind die Männer?« Sie antworteten, dass die Männer nicht weit von Ponar arbeiteten. Da konnte ich nicht mehr, ich fing an zu weinen. Und ich erzählte, was in Ponar vor sich ging. Wenn die Männer wirklich noch einmal von Ponar zurückkämen, so sollten sie sich schnell verstecken. Als sie das gehört hatten, fingen sie bitterlich an zu weinen. Damals wusste ich noch nicht, dass beide Männer zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben waren.
Meine Mutter umarmte mich und sagte: »Beruhige Dich, mein Kind, es wird alles gut!« Sie wollte nicht zulassen, dass ich zu meiner Schwester ging. Sie wies mich an, nach Hause zu gehen und mich um meinen Mann und mein Kind zu kümmern. Und so bin ich nach Ponar zurückgekehrt.
Täglich hörte man Schüsse auf den Straßen. Juden wurden erbarmungslos zusammengeschossen. Täglich ergingen neue Befehle, die Juden zu verfolgen. Ein deutscher Polizist kam in unsere Wohnung und sah zufällig unser Radiogerät auf dem Tisch stehen. Wütend schrie er uns an. Ich nahm sofort das Gerät und legte es in den Puppenwagen meiner Tochter. Ich sagte: »Das Ding ist schon lange kaputt, das Kind spielt nur damit.«
Jeder Tag, der vorbeiging, brachte uns Angst und Schrecken. Mein Rücken schmerzte vom täglichen Beugen über die Kartoffelkiste und beim Neuordnen der Kartoffeln darum herum.
Nani, unsere Kinderfrau, nahm aus unserem Proviant täglich mit, was ihr gefiel, als ob es schon ihr gehörte. Wie kann sich ein Mensch so ändern? Immer war sie die Liebe in Person gewesen – und jetzt? Eines Morgens sagte unsere Vermieterin, dass die Deutschen auch die Angestellten von Juden verfolgten, sie müsste sich auf das Schlimmste gefasst machen. Am gleichen Tag noch war Nani ohne Wiederkehr verschwunden.
Die Tage wurden immer schrecklicher. Man erzählte, dass alle Juden ins Ghetto getrieben werden sollten. Wir hofften, dass das Schießen nun einmal aufhören würde, aber es wurde mehr und mehr. Unsere Rollläden waren schon lange fest geschlossen, aber die Schreie von Frauen und Kindern wurden stärker und stärker, sie drangen uns durch Mark und Bein. Es kam uns vor, als ob es in Wilna gar keine Juden mehr geben könnte. Die Leute erzählten, dass man Jung und Alt zum Tode führte, dass die Kinder bei lebendigem Leibe mit den Alten begraben würden, dass auch Nichtjuden und sogar Geistliche brutal ermordet würden.
Es war bitter und finster in unseren Herzen. Unsere Tränen waren schon ausgetrocknet, wir schauten uns gegenseitig an und konnten es nicht fassen. Lebten wir denn in einem Schlachthaus? Und trotz allem, was uns Tag für Tag begegnete, verließ uns die Hoffnung nicht. Eines Tages – bald – würde das alles vorbei sein und wie ein böser Traum enden.
Die Geschichte von Tante Jannina
Wer ist Tante Jannina? Von ihr muss jetzt erzählt werden.
Jannina war die Schwester meines Vaters. Unser Opa – der Vater meines Vaters – lebte in einem Dorf, wo er einen Hof gepachtet hatte. Alle seine Söhne schickte er nach Wilna, damit sie dort studieren konnten. Die älteste Tochter wanderte in die USA aus. Die kleinste, Chanale, blieb zu Hause, ihr Vater sorgte für sie, lehrte sie die jüdischen Gebete zu lesen und jüdisch zu beten. Ihre Freunde und Freundinnen waren allerdings Christenkinder. Mit ihnen spielte sie in Wald und Feld. Gott hatte ihr ein schönes Gesicht und eine schöne Stimme beschert, sie sang und tanzte wunderschön. Der reichste Mann im Dorf, der die größten Äcker gepachtet hatte, fand Gefallen an ihr und lockte sie oft mit Süßigkeiten und Geschenken in sein Haus. Eines Tages war Chanale verschwunden. Man suchte sie überall und glaubte schließlich, sie sei im Teich ertrunken oder im Wald verschwunden.
In Wahrheit aber hatte der Pächter sie entführt und in das Benediktinerinnen-Kloster von Wilna gebracht. Dort wurde sie getauft und bekam den Namen Jannina. Neun Jahre vergingen, da begegnete mein Vater einer Schar junger Mädchen, einer Schulklasse in langen schwarzen Kleidern, die von Nonnen vorbeigeführt wurde. Er dachte: »Solche hübschen Mädchen sollen Nonnen werden?« Er schaute sie aufmerksam an und merkte, dass auf einmal ein Mädchen aus der Gruppe ins Kloster zurücklief. In diesem Augenblick erkannte er seine Schwester und schrie: »Chanale, Chanale!« Aber sie verschwand im Kloster. Damals war sie schon in der achten Klasse des Gymnasiums und besuchte gleichzeitig das Konservatorium.
Diese Begegnung beunruhigte meinen Vater sehr. Er fuhr zu Opa ins Dorf und erzählte ihm, was er erlebt hatte. Danach fuhr Opa ins Kloster, aber dort stritt man alles ab. Er ging sogar mit der Polizei hin, aber das war auch umsonst. In den Listen, die man ihm zeigte, wurde sie unter einem anderen – adligen – Namen geführt. Man berichtete uns, dass sie an dem Tag, als mein Vater sie erkannte, zu einer reichen adeligen Familie in Kafkas verbracht worden war. Es war die Familie des Gutsbesitzers aus unserem Dorf. Sie heiratete dort einen Ingenieur aus dieser Familie, der bei Ölbohrungen arbeitete. Er war viel älter als sie und ein edler, anständiger Mann.
Auch sie hatte ein trauriges Schicksal. Während der russischen Revolution, als sie schon Mutter von drei Söhnen war, sperrte man alle Aristokraten ein, dabei auch ihren Mann. Sie blieb mit den Kindern allein zurück. Doch sie war eine unerschrockene Frau und es gelang ihr schließlich, ihren Mann zu befreien. Sie kaufte ihn