Sag niemals, das ist dein letzter Weg. Jetta Schapiro-Rosenzweig

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Sag niemals, das ist dein letzter Weg - Jetta Schapiro-Rosenzweig

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ihm Fo­tos aus ih­rer Kind­heit. Auf ei­nem die­ser Bil­der war mein Va­ter in ei­ner Werk­statt für Tex­til­ma­schi­nen ab­ge­bil­det. Zu ihm kam ei­nes Ta­ges der Pries­ter in die Werk­statt. Er be­frag­te ihn über sei­ne Fa­mi­lie und er er­zähl­te ihm von sei­ner ver­schol­le­nen Schwes­ter Cha­na­le, die jetzt in Kow­na woh­ne und ver­such­te, et­was über ihre Fa­mi­lie zu er­fah­ren. Da­mals war sie wie­der Mut­ter ei­nes Soh­nes, den sie in Kow­no ge­bo­ren hat­te. Mein Va­ter war vol­ler Freu­de, auf die­se Wei­se wie­der eine Spur von sei­ner Schwes­ter er­hal­ten zu ha­ben. Er er­zähl­te dem Pries­ter al­les über sei­ne Fa­mi­lie. Wir Kin­der er­fuh­ren nichts von die­sen Tat­sa­chen, aber un­se­re Mut­ter war ge­nau in­for­miert.

      Da­mals wa­ren wir in un­se­rer Som­mer­woh­nung, nicht weit von Wil­na ent­fernt. Un­ser Opa wohn­te bei uns, alle sei­ne Kin­der au­ßer mei­nem Va­ter wa­ren nach Ame­ri­ka aus­ge­wan­dert. Va­ter er­zähl­te uns, dass eine Ju­gend­freun­din zu uns auf Be­such ge­kom­men sei. Frei­tags um fünf Uhr er­schie­nen mei­ne El­tern in Be­glei­tung ei­ner ele­gan­ten Frau. Ih­ren Sohn hat­te sie bei dem be­­­freun­de­ten Pries­ter zu­rück­ge­las­sen. Al­les war für den Sab­bath vor­be­rei­tet. Auf dem Tisch lag eine wei­ße Sab­bath­de­cke, die Sab­bath­ker­zen brann­ten, die Cha­lot (zwei geflochtene Hefeweißbrote) wa­ren mit ei­nem wei­ßen Tuch be­deckt, und, nicht zu ver­ges­sen, da stand der Wein zum Kid­dusch2, dem Sab­bath­se­gen. Al­les war­te­te auf Opa. End­lich kam er aus der ­Syn­ago­ge.

      Al­les saß um den Tisch he­rum, Jan­ni­na zwi­schen uns, sie war wie ver­stei­nert. Sie be­obach­te­te ih­ren Va­ter und konn­te sich kaum zu­rück­hal­ten. Opa war mit dem Ri­tu­al be­schäf­tigt und schau­te gar nicht in ihre Rich­tung. Auf ein­mal hör­ten wir, wie un­ser Gast bit­ter­lich wein­te. Opa wand­te sich ihr zu und frag­te: »Wa­rum wei­nen Sie denn?«

      Da stand sie plötz­lich auf, knie­te vor ihm nie­der und sag­te auf pol­nisch im­mer wie­der: »Va­ter, ver­zei­he mir!« Ihre Mut­ter­spra­che Jid­disch hat sie in­zwi­schen ver­ges­sen.

      Opa war wie ver­stei­nert. Er hat­te Trä­nen in den Au­gen, leg­te sei­ne Hän­de auf ih­ren Kopf und sag­te: »Mein Kind, ich ver­zei­he Dir! Al­les das, was ge­sche­hen ist, war nicht dei­ne Schuld. Gott wird Dir ver­zei­hen, ich habe es schon ge­tan. Das war Schick­sal. Dich trifft kei­ne Schuld. Böse Men­schen ha­ben das auf ih­rem Ge­wis­sen. Du warst da­mals noch ein Kind.«

      Jetzt hat­ten wir al­les be­grif­fen, und von die­sem Mo­ment an war die Ver­bin­dung zwi­schen uns und Jan­ni­na wie­der her­ge­stellt. Sie be­such­te uns dann noch drei­mal; beim drit­ten Mal war un­ser Opa nicht mehr am Le­ben, er starb im Al­ter von 90 Jah­ren. Sein Tod hat uns sehr mit­ge­nom­men. Jan­ni­na be­tei­lig­te sich an der Er­rich­tung sei­nes Grab­steins.

      1939 brach der Krieg aus, und1940 über­ga­ben die Ru­ssen Wil­na den Li­tau­ern. Da­mals ver­kauf­te Jan­ni­na ihr Haus in Kow­na und über­sie­del­te nach Wil­na. Dort wohn­te sie mit ih­rer Fa­mi­lie in der Schwurzinaistraße. Ihr ein­zi­ger Wunsch war nun, in der Nähe ih­rer Fa­mi­lie zu sein.

      Ei­nes Ta­ges kam sie nach Po­nar und be­such­te uns. Sie bat uns, un­se­re Toch­ter Ta­mar in ihre Ob­hut zu ge­ben. Sie mein­te, dass wir es ohne das klei­ne Mäd­chen leich­ter ha­ben würden da­von­zu­kom­men.

      Um es uns leich­ter zu ma­chen, er­zähl­te sie von ih­ren ei­ge­nen Schick­sals­schlä­gen, vor al­lem, wie sie ihre drei Söh­ne ver­lo­ren hat­te. Es fiel uns sehr schwer, eine Ent­schei­dung zu tref­fen; wir glaub­ten, dass wir uns nicht von un­se­rem Kind tren­nen könn­ten, aber der Ver­stand sag­te uns, dass Tan­te Jan­ni­na recht hat­te. Sie nahm Ta­mar mit. Am nächs­ten Tag schick­te sie eine Kut­sche, um Ta­mars rest­li­che Sa­chen ab­zu­ho­len. Wir ver­such­ten un­se­rer Toch­ter ein­zu­prä­gen, dass sie jetzt den Na­men Te­re­sa hat­te und dass ihre Mut­ter jetzt Jad­wi­ga und ihr Va­ter Jo­seph Schar­win­ski hie­ßen.

      Fluchtversuche

      Nach ein paar Ta­gen kam un­se­re Nach­ba­rin zu uns. Sie er­zähl­te, dass wir noch in die­ser Nacht ab­ge­holt wer­den soll­ten; sie hat­te es aus ei­ner zu­ver­läs­si­gen Quel­le. Auch die Ju­den aus Land­a­ro­wa soll­ten ab­ge­holt und wir soll­ten alle hin­ge­rich­tet wer­den, da an­geb­lich im Ghet­to kein Platz mehr für uns sei.

      Die Fa­mi­lie Pa­nis war bei uns. Wir be­dank­ten uns bei den Nach­barn und ba­ten sie, auch die Fa­mi­lie Man­del­baum zu be­nach­rich­ti­gen. Wo­hin soll­ten wir ge­hen? Wir wa­ren ver­zwei­felt. Un­se­re Ver­mie­te­rin rich­te­te für uns zwei Ruck­sä­cke mit Pro­vi­ant und war­men De­cken her; auch Pa­nis‘ soll­ten das glei­che tun. Sie er­klär­te uns, dass hin­ter dem »Hin­rich­tungswald« ein wei­te­res Wald­ge­biet läge, in dem ein Förs­ter woh­ne, den sie ken­ne. Zu ihm könn­ten wir ge­hen. Wenn wir ihn mit Wert­sa­chen be­ste­chen könn­ten, wür­de er uns be­hilf­lich sein. Sie war be­reit, uns den Weg zu zei­gen. Ein­zeln gin­gen wir hin­ter­ei­nan­der her. Die Män­ner tru­gen die Ruck­sä­cke. Es nie­sel­te und die Stra­ße war fins­ter, wir konn­ten nur eben das Kopf­tuch der Nach­ba­rin er­ken­nen. Wir mussten den Bahn­hof von Po­nar über­que­ren, schli­chen am Haus des To­des­kom­man­dos vor­bei und auch am Haus des deut­schen Be­fehls­ha­bers. Es war ein gro­ßes Ri­si­ko, aber der Wil­le zu über­le­ben be­sieg­te die Angst. Der Re­gen wur­de stär­ker. Es wa­ren kei­ne Leu­te auf der Stra­ße. Seit zwei Stun­den wa­ren wir un­ter­wegs – es kam uns vor wie eine Ewig­keit.

      Am Ein­gang zum Wald ver­ließ uns Frau Ka­schio­zo­wa. Es soll­ten noch etwa fünf Ki­lo­me­ter bis zum Haus des Förs­ters sein. Ohne ei­nen Laut ver­ab­schie­de­ten wir uns und gin­gen wei­ter. Es ging sehr lang­sam vo­ran, und wir be­schlos­sen, uns ei­nen Rast­platz zu su­chen und bis zum Mor­gen zu war­ten. Wir fan­den ei­nen ei­ni­ger­ma­ßen tro­cke­nen Platz und leg­ten uns dicht an­ei­nan­der, zu­ge­deckt mit De­cken war­te­ten wir bis zum Mor­gen­grau­en. End­lich wurde es hell. Wir hör­ten Stim­men und es wur­de uns klar, dass wir im­mer noch ganz in der Nähe un­se­res Wohn­or­tes wa­ren. Wir mussten ein­se­hen, dass wir uns ver­lau­fen hat­ten. Wir ver­such­ten nun, tie­fer in den Wald hi­nein­zu­ge­hen – kein Haus war weit und breit zu se­hen. Wir hat­ten schließ­lich Durst und fan­den in un­se­ren Ruck­sä­cken so­gar Was­ser. Auch eine Schau­fel hat­te uns Frau Ka­schio­zo­wa in den Ruck­sack ge­legt. Vor ei­nem Hü­gel fin­gen die Män­ner an zu gra­ben, da­mit wir Schutz vor Re­gen und Sturm fän­den. Da­nach konn­ten wir uns et­was vor dem Wet­ter schüt­zen. Pro­vi­ant hat­ten wir noch für drei Tage.

      Am drit­ten Tag sa­hen wir ein, dass wir so nicht wei­ter exi­stie­­ren konn­ten. Mei­nem Mann fiel ein, dass ne­ben un­se­rem Haus ein Roh­bau stand, des­sen Tür- und Fens­ter­öff­nun­gen mit Bret­tern ver­na­gelt wa­ren. Dort wä­ren wir, so sag­te er, bes­ser vor dem Wet­ter ge­schützt und könn­ten uns nachts in un­ser Haus schlei­chen und uns mit Es­sen ver­sor­gen. Auch hoff­ten wir auf Hil­fe von Frau Ka­schio­zo­wa.

      Es dau­er­te 24 Stun­den, bis wir wie­der in Po­nar an­ka­men, da wir uns nur nachts be­we­gen konn­ten. Wir hat­ten die Idee, ich soll­te zu Tan­te Jan­ni­na ge­hen, die wür­de für mei­nen Mann ein bes­se­res Ver­steck fin­den. In der Nacht könn­te ich ihn aus dem Haus

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