Sag niemals, das ist dein letzter Weg. Jetta Schapiro-Rosenzweig
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Damals waren wir in unserer Sommerwohnung, nicht weit von Wilna entfernt. Unser Opa wohnte bei uns, alle seine Kinder außer meinem Vater waren nach Amerika ausgewandert. Vater erzählte uns, dass eine Jugendfreundin zu uns auf Besuch gekommen sei. Freitags um fünf Uhr erschienen meine Eltern in Begleitung einer eleganten Frau. Ihren Sohn hatte sie bei dem befreundeten Priester zurückgelassen. Alles war für den Sabbath vorbereitet. Auf dem Tisch lag eine weiße Sabbathdecke, die Sabbathkerzen brannten, die Chalot (zwei geflochtene Hefeweißbrote) waren mit einem weißen Tuch bedeckt, und, nicht zu vergessen, da stand der Wein zum Kiddusch2, dem Sabbathsegen. Alles wartete auf Opa. Endlich kam er aus der Synagoge.
Alles saß um den Tisch herum, Jannina zwischen uns, sie war wie versteinert. Sie beobachtete ihren Vater und konnte sich kaum zurückhalten. Opa war mit dem Ritual beschäftigt und schaute gar nicht in ihre Richtung. Auf einmal hörten wir, wie unser Gast bitterlich weinte. Opa wandte sich ihr zu und fragte: »Warum weinen Sie denn?«
Da stand sie plötzlich auf, kniete vor ihm nieder und sagte auf polnisch immer wieder: »Vater, verzeihe mir!« Ihre Muttersprache Jiddisch hat sie inzwischen vergessen.
Opa war wie versteinert. Er hatte Tränen in den Augen, legte seine Hände auf ihren Kopf und sagte: »Mein Kind, ich verzeihe Dir! Alles das, was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Gott wird Dir verzeihen, ich habe es schon getan. Das war Schicksal. Dich trifft keine Schuld. Böse Menschen haben das auf ihrem Gewissen. Du warst damals noch ein Kind.«
Jetzt hatten wir alles begriffen, und von diesem Moment an war die Verbindung zwischen uns und Jannina wieder hergestellt. Sie besuchte uns dann noch dreimal; beim dritten Mal war unser Opa nicht mehr am Leben, er starb im Alter von 90 Jahren. Sein Tod hat uns sehr mitgenommen. Jannina beteiligte sich an der Errichtung seines Grabsteins.
1939 brach der Krieg aus, und1940 übergaben die Russen Wilna den Litauern. Damals verkaufte Jannina ihr Haus in Kowna und übersiedelte nach Wilna. Dort wohnte sie mit ihrer Familie in der Schwurzinaistraße. Ihr einziger Wunsch war nun, in der Nähe ihrer Familie zu sein.
Eines Tages kam sie nach Ponar und besuchte uns. Sie bat uns, unsere Tochter Tamar in ihre Obhut zu geben. Sie meinte, dass wir es ohne das kleine Mädchen leichter haben würden davonzukommen.
Um es uns leichter zu machen, erzählte sie von ihren eigenen Schicksalsschlägen, vor allem, wie sie ihre drei Söhne verloren hatte. Es fiel uns sehr schwer, eine Entscheidung zu treffen; wir glaubten, dass wir uns nicht von unserem Kind trennen könnten, aber der Verstand sagte uns, dass Tante Jannina recht hatte. Sie nahm Tamar mit. Am nächsten Tag schickte sie eine Kutsche, um Tamars restliche Sachen abzuholen. Wir versuchten unserer Tochter einzuprägen, dass sie jetzt den Namen Teresa hatte und dass ihre Mutter jetzt Jadwiga und ihr Vater Joseph Scharwinski hießen.
Fluchtversuche
Nach ein paar Tagen kam unsere Nachbarin zu uns. Sie erzählte, dass wir noch in dieser Nacht abgeholt werden sollten; sie hatte es aus einer zuverlässigen Quelle. Auch die Juden aus Landarowa sollten abgeholt und wir sollten alle hingerichtet werden, da angeblich im Ghetto kein Platz mehr für uns sei.
Die Familie Panis war bei uns. Wir bedankten uns bei den Nachbarn und baten sie, auch die Familie Mandelbaum zu benachrichtigen. Wohin sollten wir gehen? Wir waren verzweifelt. Unsere Vermieterin richtete für uns zwei Rucksäcke mit Proviant und warmen Decken her; auch Panis‘ sollten das gleiche tun. Sie erklärte uns, dass hinter dem »Hinrichtungswald« ein weiteres Waldgebiet läge, in dem ein Förster wohne, den sie kenne. Zu ihm könnten wir gehen. Wenn wir ihn mit Wertsachen bestechen könnten, würde er uns behilflich sein. Sie war bereit, uns den Weg zu zeigen. Einzeln gingen wir hintereinander her. Die Männer trugen die Rucksäcke. Es nieselte und die Straße war finster, wir konnten nur eben das Kopftuch der Nachbarin erkennen. Wir mussten den Bahnhof von Ponar überqueren, schlichen am Haus des Todeskommandos vorbei und auch am Haus des deutschen Befehlshabers. Es war ein großes Risiko, aber der Wille zu überleben besiegte die Angst. Der Regen wurde stärker. Es waren keine Leute auf der Straße. Seit zwei Stunden waren wir unterwegs – es kam uns vor wie eine Ewigkeit.
Am Eingang zum Wald verließ uns Frau Kaschiozowa. Es sollten noch etwa fünf Kilometer bis zum Haus des Försters sein. Ohne einen Laut verabschiedeten wir uns und gingen weiter. Es ging sehr langsam voran, und wir beschlossen, uns einen Rastplatz zu suchen und bis zum Morgen zu warten. Wir fanden einen einigermaßen trockenen Platz und legten uns dicht aneinander, zugedeckt mit Decken warteten wir bis zum Morgengrauen. Endlich wurde es hell. Wir hörten Stimmen und es wurde uns klar, dass wir immer noch ganz in der Nähe unseres Wohnortes waren. Wir mussten einsehen, dass wir uns verlaufen hatten. Wir versuchten nun, tiefer in den Wald hineinzugehen – kein Haus war weit und breit zu sehen. Wir hatten schließlich Durst und fanden in unseren Rucksäcken sogar Wasser. Auch eine Schaufel hatte uns Frau Kaschiozowa in den Rucksack gelegt. Vor einem Hügel fingen die Männer an zu graben, damit wir Schutz vor Regen und Sturm fänden. Danach konnten wir uns etwas vor dem Wetter schützen. Proviant hatten wir noch für drei Tage.
Am dritten Tag sahen wir ein, dass wir so nicht weiter existieren konnten. Meinem Mann fiel ein, dass neben unserem Haus ein Rohbau stand, dessen Tür- und Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt waren. Dort wären wir, so sagte er, besser vor dem Wetter geschützt und könnten uns nachts in unser Haus schleichen und uns mit Essen versorgen. Auch hofften wir auf Hilfe von Frau Kaschiozowa.
Es dauerte 24 Stunden, bis wir wieder in Ponar ankamen, da wir uns nur nachts bewegen konnten. Wir hatten die Idee, ich sollte zu Tante Jannina gehen, die würde für meinen Mann ein besseres Versteck finden. In der Nacht könnte ich ihn aus dem Haus