Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes
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Und jetzt war er zu spät.
Als er den feuchten, gewölbeartigen Keller betrat, war Dedo de Beer schon da. Wie ein Feldherr ohne Hügel stand er inmitten geschäftiger Overall-Träger, die er dirigierte wie ein eingespieltes Orchester, das seine Partitur im Schlaf beherrschte und vielleicht alles Mögliche brauchte, bestimmt aber keinen Dirigenten. Auch Kramer war da, wie Stahnke mit aufwallender Eifersucht feststellte. Immerhin aber hielt er Abstand zum neuen Chef.
»Ja, genau dahin. Sehr gut, sehr gut.« De Beer begleitete die Aufstellung einer dieser neuartigen Rundum-Kameras, die ein geradezu plastisches Abbild des gesamten Tatortes festzuhalten vermochten, mit einem steten Fluss von Kommandos. Dass sich keiner der Techniker darum kümmerte, scherte ihn überhaupt nicht. »Jawoll, so muss das gehen. Das ist die neue Zeit, was, Kollegen? Genau das brauchen wir hier. Keine veralteten Methoden aus der Mottenkiste.« Beifallheischend schaute de Beer um sich. »Fossilien. Ab damit ins Museum! Die alten Zeiten sind vorbei. Einen Stahnke zum Beispiel kann hier wirklich keiner gebrauchen.« Dass sein Blick im selben Moment auf den Träger dieses Namens fiel, hätte kein Dramaturg wirkungsvoller arrangieren können. De Beer verstummte und erstarrte, und mit ihm verstummte und erstarrte jeder andere im Raum.
Warum Stahnke gerade jetzt breit zu lächeln anfing, hätte er selbst nicht zu erklären vermocht. Vielleicht, weil es nun offensichtlich war. Die Fehde war erklärt, die Duellforderung ausgesprochen, es gab kein Zurück, jedenfalls nicht mehr zu vernünftig-friedlicher Kooperation. Fein, dachte der Hauptkommissar, dann also herunter mit den Handschuhen. Und jeder hier konnte bezeugen, dass er nicht angefangen hatte.
Ob de Beer das ähnlich sah? Sein Blick jedenfalls zuckte zurück wie Finger von einer heißen Herdplatte, blitzartig und doch zu spät, und sein grauer Teint zeigte eine leichte rosa Beimischung. Vergeblich versuchte der Kriminalrat, in die Feldherrnrolle zurückzufinden; seine Befehlsgesten gerieten zu einem hilflosen Rudern der Hände, während ein plötzliches Stottern seinen ohnehin überflüssigen Kommandos jede Überzeugungskraft raubte. Einige Sekunden lang ertrug de Beer die ausdruckslosen Blicke seiner Untergebenen, dann brach er mit einem fahrigen »Na, Sie wissen dann ja Bescheid!« seine Versuche ab, wirbelte herum und stürmte dem Ausgang zu. Dabei musste er dicht an Stahnke vorbei, und es war sicherlich nicht einfach, den Hauptkommissar dabei keines weiteren Blickes zu würdigen, aber de Beer brachte das fertig. Stahnke glaubte seine Zähne knirschen zu hören, konnte jedoch nicht ganz ausschließen, dass das Wunschdenken war.
Die Hände tief in den Hosentaschen, tapste er zu Kramer hinüber, peinlich darauf bedacht, nichts zu berühren, was bereits markiert war oder auch nur eventuell als Spur in Frage kam. »Danke für die Nachricht«, murmelte er.
Kramer zuckte nur die Achseln. Wortlos reichte er dem Hauptkommissar ein Paar Latexhandschuhe.
Während Stahnke die widerspenstigen Dinger überstreifte, nahm er die ihn umgebende Szene in sich auf, wie er es vor Jahrzehnten gelernt hatte, lange vor der Erfindung dieser elektronischen Rundum-Kameras. Der Kellerboden sah aus, wie man es nach einer Überschwemmung erwarten konnte, übersät mit allerlei aus den Ecken gespülten, eingeweichten Gegenständen und kleinen Pfützen, die sich in den Löchern und Vertiefungen des unebenen, abgenutzten Bodens hielten, obwohl die Flächen bereits abgetrocknet waren. Was fehlte, waren Schlamm oder größere Mengen Erde und Sand; hier hatte sauberes Leitungswasser gestanden, keine Dreckbrühe aus dem Abwasserkanal oder der heruntergewirtschafteten Ems.
Ganz am Rand des Gewölbes und doch im Zentrum aller Aktivitäten stand die Kiste. Ein Sarg – das war Stahnkes erster Gedanke, aber immerhin wusste er auch bereits, was sich darin befand. Eine Leiche. Und Wasser. Dieses Wasser wurde gerade von zwei Beamten in gazeartigen weißen Overalls vorsichtig abgepumpt; offenbar sollte die Flüssigkeit noch gründlich untersucht werden. Sicherlich eine richtige Maßnahme, dachte Stahnke, auch wenn er bezweifelte, dass man etwas Signifikantes darin entdecken würde. Aber zweifeln hieß nicht wissen, und auf Wissen kam es an.
Der Körper war der eines alten Mannes, der wohl nicht sehr groß gewesen war, sofern man das von einem Liegenden überhaupt bestimmt sagen konnte. Der Tote trug weiße Unterwäsche, war weder dick noch dünn. Sein nasses, weißgraues Haar war halblang und noch sehr dicht, nur in der Stirn ein wenig gelichtet. Die Augenlider waren geöffnet, die Augen dunkelbraun. Die Nase war kräftig, der Mund breit, die Lippen waren schmal, das Kinn war rund, aber breit, weder fliehend noch vorstehend. Kein besonders auffälliges Signalement, musste Stahnke sich selber eingestehen.
»Hatte er etwas bei sich?«, fragte er Kramer, der wieder einmal neben ihm aufgetaucht war wie aus der Erde gewachsen. Stahnke wies auf den Boden: »Hier liegt ja allerhand rum, auch Kleidung.«
Kramer schüttelte den Kopf. »Eher unwahrscheinlich, dass etwas davon dem Toten gehört hat, die meisten Sachen müssen hier schon lange gelegen haben. Kommen auch von der Größe her nicht hin. Auf alle Fälle keine Spur von Papieren jeder Art, Ausweis, Führerschein, Geldkarten, nichts. Irgendwer hat ihn gründlich gefilzt.«
»Wurde er schon gedackelt?«
»Nein.« Ein Wie denn auch? schwang unhörbar mit. Klar, zunächst einmal musste die Leiche ja aus dem Wasser und der Kiste heraus, ehe man eine Daktyloskopie vornehmen konnte. Eine Maßnahme, deren Erfolg angesichts der aufgeweichten Haut und der verschrumpelten Fingerspitzen des Toten zudem recht zweifelhaft war. Bloß gut, dass de Beer nicht in Hörweite gewesen war! Aber wie auch immer, Fingerabdrücke würden nur dann etwas nützen, wenn der Tote bereits in der Kartei erfasst war.
»Glaubst du denn, dass er Akte hat?«, fragte der Hauptkommissar.
»Sieht nicht aus wie einer, der bei uns arbeiten lässt«, erwiderte Kramer.
»Wieso glaubst du das?«
»Nur so ein Gefühl.« Kramer wandte sich wieder ab; so bekam er nicht mit, dass Stahnke leise durch die Zähne pfiff. Sieh an, Kramer hat nicht nur ein Gefühl, er äußert es auch! So was gehört im Kalender angekreuzt, dachte Stahnke, und zwar rot.
Ein Fotograf mit konventionell aussehender, aber natürlich ebenfalls digitaler Kamera schoss eine Fotoserie, ehe der Körper aus der entleerten Kiste gehoben wurde, und der Hauptkommissar vergewisserte sich, dass auch Porträtaufnahmen darunter waren. Dann musterte er die Plastikriemen, mit denen der Tote an Händen und Füßen gefesselt war. Kabelbinder aus weißem Kunststoff, die lange Version, allem Anschein nach in handelsüblicher Ausführung. Konnten überall gekauft worden sein, aber immerhin, wieder ein Detail, an dem man ansetzen konnte und musste.
Das Innere der sargähnlichen Kiste sah verwittert aus. Zahlreiche tiefe Schrammen und Kerben deuteten auf intensive, vermutlich langjährige Nutzung hin. Nutzung als was? Die Wasserreste am zerfurchten Boden der Kiste schienen Spuren von Sand aufzuweisen, mit dunklen Beimischungen. Hatte der Sand an dem fast nackten Körper gehaftet, oder befand er sich schon länger in dem Behältnis? Stahnke riet auf Letzteres. Vielleicht war in dieser Kiste etwas gelagert worden, Kartoffeln etwa oder andere Vorräte, dabei sammelten sich leicht Sand und Erdkrümel an. Andererseits machten Kartoffeln keine Schrammen … Werkzeuge vielleicht? Oder Gartengeräte. Ja, das war es wohl. Damit wäre auch das sargartige Format der Kiste zu erklären.
Nicht