Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes
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Читать онлайн книгу Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes страница 13
»Die haben zwei Juden am Wickel«, sagte ihre Großmutter mit unterdrückter Stimme. »Los, seht zu, dass wir weiterkommen. Stinus, mach voran!«
»Aber wieso denn?«, fragte der Junge störrisch und rührte sich nicht vom Fleck. Auch Fritz starrte wie gebannt auf das Geschehen.
Gerade war Janssens Lachen besonders laut zu hören. Der SS-Mann taumelte, fuchtelte scheinbar unkontrolliert. Im nächsten Moment zuckte seine rechte Hand vor und klatschte einem der beiden Bedrängten ins Gesicht, so hart, dass dem sein kleines Käppchen vom Hinterkopf flog. Erika hörte Stöhnen, schnell übertönt von lautem, beifälligem Gelächter. Verspätet hob der Geschlagene seine Arme vors Gesicht, Arme in langen weißen Ärmeln mit schwarzen Schonern über den Manschetten. Ein Bürohengst, dachte das Mädchen, unwillkürlich den Ausdruck benutzend, den sie von ihrem Vater kannte. Was machte der hier? Und wie sollte sich so einer gegen diese vierschrötigen Kerle wehren?
Die Männer, die den Wagen umstanden, schienen sich durch das Gelächter angefeuert zu fühlen. Weitere Ohrfeigen, Schläge, Stöße, auch Tritte prasselten auf die beiden in die Enge Getriebenen ein, die sich so gut es ging zu decken versuchten, ohne sich ernsthaft zu wehren. Dann wäre es ihnen gewiss noch schlimmer ergangen. Oma hat schon recht, dachte Erika, die Olympischen Spiele sind vorbei, niemand muss sich mehr für das Ausland verstellen, jetzt zeigt Deutschland, wie es wirklich ist.
Die Schläger johlten wie spielende Jungen. Und genau wie kleine Jungs schienen sie die Lust an ihrem Spiel schnell wieder zu verlieren. Prügeln allein führte offenbar zu nichts – etwas Neues musste her. »Raus mit den Kerlen!«, brüllte Janssen los. »He, ihr Judenbengel, jetzt schmeißen wir euch raus aus dem Dorf!« Erika lief es kalt über den Rücken, als sie hörte, wie ihr Vater grölend mit einstimmte.
»Ja, raus mit ihnen, aber richtig!«, schrie ein braun Uniformierter. Erika kannte ihn nur flüchtig. War das nicht der Holz- und Kohlenhändler? Alle nannten ihn nur Hackes, keine Ahnung, wie der richtig hieß. »Wir schicken die beiden auf Transport! Hier, mit dem Auto. Und zwar so, dass wir die ein für alle Mal los sind.«
»Mit dem Auto? Du spinnst wohl!«, rief ein Mann, der Erika unbekannt war; vermutlich der Fahrer des großen Wagens. »Die kommen mir nicht da rein. Glaubst du, ich lasse dreckige Juden auf die guten Polster?«
»Wer redet denn von deinen Polstern?« Der Uniformierte schlug auf die Kofferraumhaube, dass es dröhnte, und lachte noch dröhnender. »Die kommen natürlich hier hinten rein! Abteilung für Gepäck und Viehzeug, da gehören sie hin!«
Wieder lautes Gelächter, diesmal in der ganzen Runde. Die beiden Juden, die anscheinend schon gehofft hatten, das Schlimmste überstanden zu haben, tauschten einen schnellen Blick. Dann rannten sie los, die Köpfe gesenkt. Ein verzweifelter Fluchtversuch, der zum Scheitern verurteilt war. Im Nu waren die beiden von zahllosen Händen ergriffen und zu Boden gezerrt. Auch viele der Zuschauer beteiligten sich jetzt, hielten die beiden Männer fest, schlugen und traten sie, während Janssen und Erikas Vater ihnen Gürtel und Hosenträger abnahmen und sie damit fesselten. Die Kofferraumklappe des Wagens öffnete sich wie ein gefräßiges Maul, und die beiden Gefangenen wurden hineingestopft wie die Opfer eines blutrünstigen Molochs. Zwei der SA-Männer drückten die Klappe herunter.
»Passt nicht«, rief einer der beiden. »Das Ding geht nicht zu!« Zwar steckten die Körper der Gefesselten im Frachtraum, ihre Köpfe jedoch schauten noch durch einen Spalt heraus, am Hals eingeklemmt zwischen Klappe und Karosserie.
»Haut ihnen welche auf den Dassel!«, schrie jemand aus der Menge. »Dann passen sie schon rein, wetten?« Und eine andere Stimme grölte: »Schneidet ihnen die Rüben doch einfach ab!«
Wieder lachte der Kohlenhändler dröhnend. »Wieso denn? Sieht so doch gut aus. Kann wenigstens jeder sehen, was Juden blüht, die sich in Jemgum blicken lassen.« Er fixierte die Kofferraumklappe mit einem Stück Seil am Griff, so fest, dass die Hälse der beiden Gefangenen schmerzhaft gequetscht wurden. Einer von ihnen schrie auf; die Gaffer antworteten mit höhnischem Geheul. Der andere, dem das Blut aus der zerschlagenen Nase lief, biss die Zähne zusammen und schwieg.
Umso mehr johlten die Umstehenden. Der Fahrer setzte sich hinters Steuer, die anderen Nazis drängten sich auf Vorder- und Rücksitze, und wer keinen Platz mehr fand, stellte sich auf die äußeren Trittbretter und hielt sich an den Fensterrahmen fest. Eine Qualmwolke quoll aus dem Auspuff, als der Motor dröhnend ansprang. Langsam und auf dem unebenen Pflaster schwankend, setzte sich der Wagen in Bewegung. Jetzt schrien beide Geschundenen laut auf; ihre Hälse wurden mit jedem Schaukeln stärker und schmerzhafter zwischen den Metallkanten gescheuert und gequetscht. Einige Halbwüchsige und auch ein paar erwachsene Männer trabten hinterher, als hätten sie Sorge, auch nur einen Moment dieser schaurigen Prozession zu verpassen.
Erika schaute auf Stinus, der sich nur mit Mühe zu beherrschen schien, um sich nicht stracks in den Sattel zu schwingen und dem Auto mit den Gefolterten zu folgen. Sein Mund stand vor Begeisterung halb offen, und sein gespannter Blick verriet keine Spur von Mitleid.
Ganz anders Fritz. Überrascht bemerkte Erika, dass dessen Unterlippe bebte, dass sich der Junge sogar über die Augen wischte. Keiner außer ihr schien das gesehen zu haben, alles starrte immer noch dem Wagen nach, der sich langsam entfernte.
»Disse Düvels«, zischte Erikas Großmutter halblaut. »Disse naare Düvels.«
Stinus nickte, ohne sich umzudrehen. »Ja, das ist wahr«, stimmte er zu. »Die Juden sind Deutschlands Unglück, das steht mal fest.«
Gott sei Dank, dachte Erika und hoffte, dass ihre Großmutter nicht daran denken mochte, Stinus’ Irrtum aufzuklären.
»Nun macht mal voran«, sagte die stattdessen. »Sonst verpasst ihr noch die Fähre.«
Die Leute um sie herum gingen noch nicht auseinander, sondern besprachen laut und erregt das Geschehene, hämisch zumeist und ohne einen Ton des Bedauerns. Trotzdem kamen sie jetzt mit ihren Fahrrädern leichter durch. Schnell brachten sie die Oberflethmerstraße hinter sich und erreichten den Fährpatt. Schon hatten sie die Deichlinie hinter sich; vor ihnen glitzerte das Hafenbecken in der kalten Oktobersonne. Allerhand Boote dümpelten an ihren Festmachern. Die Fähre lag abfahrtbereit.
Erika war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch Lust auf den Jahrmarkt hatte, so voll war ihr Kopf von den fürchterlichen Bildern, die noch kaum verblasst waren. Sollte sie einfach umkehren? Aber da war diese Abmachung mit Stinus, so bindend wie ein Vertrag. Gut, sie konnte Übelkeit vorschützen, ein plötzliches Unwohlsein. Unterleibsbeschwerden. Da würde Stinus nicht nachfragen, das würde er sich nicht trauen. Alle Jungs hatten eine heilige Scheu vor den Mysterien des weiblichen Körpers, das wusste Erika genau. Zwar brannten sie alle darauf, mehr, viel mehr darüber zu erfahren, aber fragen würden sie nie. Lieber sich die Zunge abbeißen.
Unwillkürlich war sie langsamer gegangen. Stinus, dem es nach dem spannenden Aufenthalt nun nicht schnell genug gehen konnte, hatte schon ein paar Meter Vorsprung. Auch vor Fritz, der ebenfalls seinen Schritt verhalten hatte, den Blick zu Boden gerichtet. Dieser Fritz kam Erika immer eigentümlicher vor. Warum benahm er sich so … so … anders als andere Jungen?
Als erneut Motorengeräusch ertönte, dachte Erika zunächst, es käme von der Fähre, die gleich abfahren würde. Dann erst registrierte sie, dass das Geräusch von hinten kam. Und lauter wurde. Das große Auto war wieder da, hatte seine Rundfahrt durch den kleinen Ort offenbar beendet. Dröhnend bog es in den Fährpatt ein, die Nazis immer noch auf den Trittbrettern, die beiden Geschundenen immer noch eingeklemmt im Kofferraum. Direkt am Hafenbecken, nur wenige Schritte von Erika und ihren Begleitern entfernt, hielt der Wagen an. Sekunden später hatte sich auch die Traube der