Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes

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Schülergetöse nur ansatzweise. Fast niemand hörte hin, die Lehrer saßen sowieso alle unten. Irgendwas mit »Gurte anlegen, während der Fahrt nicht die Plätze wechseln« oder so. Plögers Stimme, ach, gepfiffen, auf den hörte ja eh keiner. Knack, aus.

      Dann, nach ein paar Sekunden, wieder knack: »Sofort das Kaugummi von der Kamera entfernen, oder ich komm rauf!« Oha, das klang nach Käpt’n Iglo! Justin richtete sich ein wenig auf, linste nach vorne. Aha, natürlich Max. Pulte schon den Gummiqualster von der Linse, schön von der Seite, toter Winkel. Wollte keinen Ärger, der Max. Aber mit Käpt’n Iglo wollte ja keiner Stress. Der war fast so schlimm wie Knoppers, der Sportlehrer, und Knoppers konnte einen richtig fertigmachen. Drei, vier Runden um den Platz, den Alten mit seiner Pferdelunge dabei immer im Nacken, das brauchte echt keiner. Voll krass waren die Typen, echt, ey.

      Jetzt ging Max in die Hocke, zog sich seine Hood über den Kopf und tauchte unter der Kamera hindurch zurück auf seinen Platz. Natürlich neben Dunja, war ja klar. Verdammt heiße Schnecke, wenn man auf Ölaugen stand. Wilde schwarze Locken bis über den halben Rücken, Ohrringe wie umgedrehte Weihnachtsbäume, auch sonst geile Optik, aber ihr Mund stand nie still. Justin würde so was rasend machen. Aber eine wie Dunja kam für ihn ja sowieso nicht in Frage.

      Trotzdem, geiler Mund.

      Knack, wieder der Lautsprecher. Plöger, ihr Geschichtslehrer. »So, liebe Schülerinnen und Schüler, wir erreichen jetzt gleich das Lager Westerbork. Ihr wisst ja Bescheid, Westerbork wurde ursprünglich 1938 von der niederländischen Regierung errichtet, um die vielen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, vor allem natürlich Juden, aufzufangen und unterzubringen, denn integrieren wollte man sie auf keinen Fall, schon um das Verhältnis zu Deutschland nicht zu belasten. So galten die Juden als unerwünschte Ausländer.«

      »Na logo!«, schrie Hadid dazwischen. »Wo denn auch nicht? Die waren ja nicht dumm, die Holländer, was, Caro?«

      Die Angesprochene, eine hübsche, hochgewachsene Blondine, deren Eltern aus Drenthe stammten, lächelte nur, irgendwas zwischen geschmeichelt und peinlich berührt. Einige andere johlten laut und beifällig. Auch Dunja lachte, dass ihre Ohrgehänge schepperten.

      »Nach dem Einmarsch am zehnten Mai 1940 übernahmen die Deutschen das Kamp Westerbork«, fuhr Plöger ungerührt fort. Er kriegt unten wohl nur ansatzweise mit, was hier oben im Bus abgeht, dachte Justin. Unten war es ruhiger, da saßen sowieso nur die Braven. »Aus Internierten wurden damit automatisch Gefangene. So gesehen, haben die Holländer den Nazis die Arbeit sehr erleichtert.«

      Wieder Beifallsrufe oben im Bus; Hadid beugte sich zu Caro vor und klopfte ihr demonstrativ auf die Schulter. Das wurde der Blonden nun doch zu viel. Ärgerlich schüttelte sie die Hand des Libanesen ab.

      »Auch die Familie Frank, deren Haus in Amsterdam wir später noch besichtigen werden, wurde nach ihrer Gefangennahme hierher gebracht«, erzählte der Geschichtslehrer weiter. »Inzwischen war aus dem sogenannten Flüchtlingslager ganz offiziell ein Judendurchgangslager geworden. Durchgang bedeutet Zwischenstation auf dem Weg zu den Vernichtungslagern. Aber das wisst ihr ja hoffentlich noch aus dem Unterricht, hatten wir ja alles schon.« Knack. Gelangweiltes Genöle machte sich breit, während der Bus abstoppte und schwankend auf einen Museumsparkplatz einbog. Knack: »Und kommt natürlich im nächsten Test dran.« Knack. Genervtes Stöhnen mischte sich ins Genöle.

      »Scheiß Judentest!« Das kam von ganz hinten. »Nix wie Ärger hat man mit dem blöden Pack.« Ach, Erol. Sollte wohl komisch sein, jedenfalls lachte der Lange selbst, und seine Kumpels stimmten ein, Hadid allen voran. Dunja lachte nicht, das konnte Justin deutlich sehen, denn sie hatte sich umgedreht und starrte nach hinten. Ihre Augen funkeln, stellte Justin fest. Scharf. Aber blaue fand er trotzdem schöner.

      Zischend öffneten sich die Türen, die Schüler quollen ins Freie, alle drei neunten Klassen der Leeraner Friesenschule, Fünfzehnjährige überwiegend, aber auch schon Sechzehn-, Siebzehn- und Achtzehnjährige. »Überlagerte« nannte Plöger die Wiederholer. Justin war sechzehn, spät eingeschult, einmal backen geblieben, genau wie Hadid, der war zwar schlauer als er, aber früher genauso faul, tja, war halt so. Wen kümmerte das? Seine Mutter jedenfalls nicht. Vater hatte er eh keinen.

      Während draußen schon die Gruppen eingeteilt und Bögen mit Aufgaben verteilt wurden, schob sich Justin noch die Wendeltreppe runter. Eilig hatte er es nicht, Geschichte war noch nie sein Ding gewesen. Musik schon eher, jedenfalls HipHop. Er schob den zweiten Earplug wieder hinein. Ich ficke deine Mutter hier langsam gang und gäbe / dank mir, kein Problem, das war im Handumdrehn / ich sperre Mädchen in meinen Keller ein / sag, was kann man für ein Penner sein / und kick den Neugeborenen die Schädel ein … Krass. Justin musste grinsen. Tja, Bass Sultan Hengzt, solche Leute trauten sich was. Fand er geil, auch wenn er die eigentlich nicht mochte. Komisch eigentlich. Aber auch egal.

      Dunja tänzelte auf Plöger zu und schnappte sich eines der letzten Klemmbretter mit Fragebögen, strahlend wie immer. Fingerlang Ehrgeiz, pah. Justin beeilte sich, an ihre Seite zu kommen, quetschte sich zwischen Max und Hadid, rempelte dabei Thang zur Seite, ohne sich zu entschuldigen. Der Schlitzi war eifrig genug, der konnte sich sehr gut selber helfen.

      »Immer vier arbeiten zusammen!«, rief Plöger. Justin hörte nichts, sah nur die vier Finger, die sein Lehrer in die Höhe hielt. Na prima, das passte doch. Dunja würde das schon machen, notfalls mit Max’ Hilfe. Er und Hadid mussten nur lässig dabeistehen. Perfekt.

      Sie wollen mich hinter schwedischen Gardinen / die Kids sind seelisch labil, ich als Vorbild rede vom Dealen / und habe all diese Mädchen zu Huren gemacht / ich bin das wahre schlechte Vorbild und hab die Juden vergast!

      Hinter den anderen her taperte er an Bahngeleisen entlang, stillgelegten offenbar, jedenfalls waren sie verrostet. Einige waren total verbogen, die Enden standen hoch, stachen ins Leere. Sah aus wie der Schrott bei Firma Heeren am Hafen in Leer. Justin glotzte verständnislos. Da war auch ein Prellbock, davor waren Blumen gepflanzt. Hä?

      »He, mach gefälligst auch mal mit hier!« Dunja riss ihm die Ohrstöpsel heraus, beide gleichzeitig. Tat richtig ein bisschen weh.

      Ärgerlich grunzte Justin auf und stoppte den Player. »Wassn?«

      »Pass auf, Frage vier: Wie viele Züge mit deportierten Juden verließen Westerbork zwischen 1942 und 1944 in Richtung Osten?« Dunjas dunkle Augen fixierten ihn ungeduldig.

      Justin hob die Schultern. »Keine Ahnung. Eine Million?«

      Dunja schlug ihm das Klemmbrett gegen die Brust. »Blödmann. Penn weiter!«

      »Hier!« Hadid hatte eine Infotafel entdeckt. »Da steht’s. 65 Züge nach Auschwitz, 19 nach Sobibor, acht nach Bergen-Belsen und sechs nach Theresienstadt. Macht zusammen, äh, 98 Stück. Richtig?«

      »Klasse!« Dunja trug die Zahl ein, benutzte dabei Max’ Rücken als Schreibunterlage. »Damit hätten wir auch gleich die Antwort auf Frage vier: Welche Konzentrationslager waren die Ziele? Vier Kästchen, prima, das passt!«

      »98 Züge, gar nicht so viele, oder?«, fragte Max.

      »Nur aus Holland? So groß ist das Land ja nicht«, erwiderte Hadid. Er reckte den Hals, konnte Caro aber nirgends entdecken. »Komisch, so ’n kleines Land und so große Frauen!«

      »In diesen 98 Zügen saßen aber insgesamt über hunderttausend Menschen«, sagte Dunja. »Guck, das war doch Frage zwei. 107 000 genau. Also über tausend pro Zug.« Sie legte nachdenklich den Stift an ihre vollen Lippen und blieb vor einem offenen Waggon stehen. Westerbork – Auschwitz, Auschwitz – Westerbork stand auf einem verwitterten Schild neben der Schiebetür.

      »Gesessen

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