Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes

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kapier ich auch das mit den Schienen«, platzte Justin heraus. Und ärgerte sich, weil ihm aufging, dass sein Lehrer mit seinen Fragen genau das hatte erreichen wollen. Zum Glück achteten die anderen gar nicht auf ihn.

      »Frage fünf: Wie viele der Deportierten haben die KZs überlebt?«, las Dunja vor. »Wieso überlebt? Ich denke, die sind da alle ermordet worden.«

      »Die meisten, ja«, warf Max ein. »Und viele auch sofort. Aber viele kamen auch erst in Arbeitslager, mussten schuften, die Männer ersetzen, die als Soldaten in den Fabriken fehlten. Hart arbeiten. Dass sie sich dabei schnell zu Tode arbeiteten, war gewollt und einkalkuliert.« Max rieb sich die Stirn, hob dann den Zeigefinger: »Am Ende hat in den Arbeitslagern einer von fünfhundert überlebt. In den Vernichtungslagern war es nur einer von 75 000.«

      »Gewollt und einkalkuliert. Soso.« Auch Hadid hob den Finger, rieb sich die Stirn, äffte seinen Mitschüler nach. »Da haben wir aber recht gut aufgepasst, sehr schön, sehr schön, Herr Plöger junior. Dafür dürfen Sie einmal in Ihres Vaters Sessel pupsen.«

      Dunja und Justin lachten gleichzeitig los. Hadid hatte sowohl Max als auch seinen Vater gut getroffen. Das Mädchen aber wurde schnell wieder ernst. »Mensch, hört auf zu geiern, das passt hier doch wohl gar nicht. Die Leute gucken schon.«

      »Na und?« Hadid blickte sich provozierend um. Keiner der Besucher, die nicht zu den Leeraner Schülern gehörten, schien auf die Gruppe zu achten. »Wenn schon. Was ist denn mit den Leuten, die von den Juden verfolgt und ermordet werden? Was ist mit Palästina und dem Libanon? Massenmord in Palästina, Holocaust durch die Rabbiner! Macht sich darum etwa einer von euch hier einen Kopf? Nee, die Menschen da sind euch doch völlig egal. Nur um die Juden, da wird andauernd ein Gejammer und Geschrei gemacht, ewig und drei Tage! Ist ja nicht auszuhalten.«

      Justin nickte beifällig. »Genau. Und immer stehen wir Deutschen als Täter da. Mann, geht einem das auf die Nerven! Dabei waren die Juden doch selber schuld. Hätten ja nicht immer so gierig sein müssen.«

      Max zog seine Stirn in Falten. Dunja schnappte nach Luft. Hadid grinste breit. Justin zuckte die Achseln. Ganz genau wusste er auch nicht, wo er das jetzt herhatte. Das Internet bot ja so allerhand.

      »Los, weiter.« Dunja blätterte energisch um, las die nächsten Fragen vor. Justin hörte nicht hin. Felder rötlicher Backsteine nahmen seine Aufmerksamkeit gefangen. Sie standen aufrecht, waren unterschiedlich hoch, und jeder trug einen glänzenden Davidstern auf der oberen Seite. Wenn man genauer hinsah, waren auch Namen und Daten zu erkennen. Konnte es sein, dass jeder dieser Steine für einen Menschen stand, der von hier aus in den Tod geschickt worden war?

      Hunderttausend, das war bloß so eine Zahl. Das hier, die Steine, das waren so unglaublich viele. Justin fühlte sich unbehaglich. Er sehnte sich nach seiner Musik, um das ungewohnte Gefühl in seinem Kopf zu betäuben, traute sich aber nicht, die Ohrhörer wieder einzustöpseln. Überall schwirrten Lehrer herum. Jetzt ärgerte er sich doch, dass er sein Haar so kurz hatte schneiden lassen.

      Der Fragebogen führte sie vom Freigelände in die Ausstellungsräume. Große, körnige Schwarzweißfotos zeigten Menschen in altertümlicher Kleidung, Erwachsene und Kinder. Begleittexte nannten die unterschiedlichsten Geburtstage. Aber die Todesdaten, die waren irgendwie alle sehr ähnlich.

      Haufen von Koffern, die die Leute hatten zurücklassen müssen. Briefe und Karten mit verzweifelten Botschaften, teilweise aus bereits fahrenden Zügen geworfen. Ein Teddy in einem gestreiften Schlafanzug.

      Zwischen den Exponaten fühlte Justin sich unbeobachtet. Er stöpselte sich wieder ein und fuhr den Song weiter ab. Menschen sterben jeden Tag auf der Welt / sie haben Pech! / Es ist doch alles nur Spaß, Boy!

      Eine eng beschriebene Postkarte ohne Briefmarke drehte sich in einer Glasvitrine, als schwebte sie mit dem Fahrtwind davon. Eine Mädchenstimme sagte: »Mein Gott, was tun mir die Leute leid.«

      Justin hörte es nicht. Justin stand wie angewurzelt, die Unterlippe noch weiter herabhängend als sonst, den Blick starr zu Boden gerichtet. In dieser Abteilung gab es Utensilien der Gestapo zu sehen, darunter auch Foltergeräte, zusammen mit Bildern und Texten, die zeigten, wie sie benutzt wurden. Mitten drin eine Kiste, lang und schmal, mit hochgeklapptem Deckel. Justin brauchte nicht erst zu schauen, wie die Nazis sie eingesetzt hatten.

      Solch ein Ding hatte er schon einmal gesehen. Im Einsatz.

      10.

      Auf dem glatten Linoleumboden des hell erleuchteten Labors nahm sich die Kiste ganz anders aus als in dem finsteren Kellergewölbe, wo Stahnke sie zuerst gesehen hatte. Zudem war sie jetzt trocken und enthielt keine Leiche. Trotzdem blieb ein Eindruck von Bedrohlichkeit. Bedrohlich wie ein Sarg eben.

      »Die früheren Besitzer des Hauses leben nicht mehr«, referierte Kramer aus seinen Unterlagen. »Es gibt aber Aussagen von Nachbarn, denen zufolge diese Kiste tatsächlich zur Lagerung von Gartengeräten benutzt worden sein soll. Das erklärt die vielen Macken an den Innenseiten und den Sand.«

      »Eigentlich unsinnig«, wandte Stahnke ein. »Gartengeräte hängt man doch besser an die Wand, zumal, wenn im Keller so viel Platz ist. Dann muss man nicht lange suchen, wenn man irgendwas braucht. In so einer Kiste liegt doch alles wirr durcheinander, und das, was man gerade benötigt, ist grundsätzlich unten. Außerdem, wenn etwas fehlt, bemerkt man es nicht gleich. Unpraktisch, wenn du mich fragst.«

      Kramer blätterte in seinen Unterlagen. »Stimmt«, sagte er. »Allerdings besaßen diese Leute außer dem Garten hier noch eine Parzelle in einem Schrebergarten draußen im Hammrich. In der Kiste wurden die Geräte hin- und hertransportiert.«

      »Hm. Na denn.« Stahnke beugte sich vor, musterte das Kisteninnere, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Was haben die lieben Kollegen denn noch so alles herausgefunden?«

      »In dem Loch im Deckel hat ein Schlauch gesteckt«, antwortete Kramer. »Abriebspuren lassen den Schluss zu, dass es sich um denselben Gartenschlauch handelt, der im Keller gefunden wurde. Weitere Spuren fanden sich an dem Schlauch leider nicht.«

      »Nach der Tat zurückgelassen? Oder schon dort vorgefunden?«

      »Vermutlich Letzteres. Das Schlauchende ist auf einen Wasserhahn aufgeschraubt, und Korrosionsspuren weisen darauf hin, dass diese Verschraubung seit Jahren nicht mehr gelöst worden ist.«

      Wie mochte das sein, wie mochte es sich anfühlen, gefesselt in einer verschlossenen, engen, dunklen Kiste zu liegen, die sich langsam mit Wasser füllte? War der alte Mann mit der Beule am Kopf bis zum Schluss betäubt gewesen, oder hatte das eiskalte Wasser ihn wieder zu Bewusstsein gebracht, lange genug, um den eigenen Todeskampf voll auszukosten? Stahnke erschauderte.

      »Der Klempnermeister hat ausgesagt, der Wasserhahn sei nicht ganz geschlossen gewesen«, fuhr Kramer fort. »Damit ist die Überflutung des Kellers zu erklären. Ob das Absicht war oder ob die Täter gestört wurden und überstürzt flüchteten, ist ungewiss.«

      »Wie so vieles«, seufzte Stahnke.

      Kramer blätterte. »Auffällig ist, dass der Sand, der sich in der Kiste befand, mit Spuren von Kohlenstaub durchsetzt war. Das betreffende Haus hat eine Gasheizung, keine Kohleöfen. Vermutlich war das früher anders. Wir überprüfen das.«

      »Alles gut und schön«, knurrte Stahnke. »Aber wieder nichts, das uns konkret weiterhilft.«

      »Eine Sache wäre da noch«, sagte Kramer. Ganz beiläufig, mit stoischer Miene.

      Na

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