Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes

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bereits müde. Der Jüngste war er wahrlich nicht mehr. »Da die Befragung der Nachbarn ebenfalls negativ verlaufen ist, stehen wir in puncto Identifikation also nach wie vor bei null«, knurrte er.

      »Und die DNA?«, fragte Kramer

      »Diese Hoffnung bleibt uns noch«, entgegnete der Doktor.

      Stahnke brauchte eine Sekunde, ehe er begriff. »Wie! Soll das heißen, der genetische Fingerabdruck wurde noch nicht abgeglichen?«

      »Na hören Sie mal!« Mergners zerzauste Haare schienen sich im Zorn noch mehr zu sträuben. »Wofür halten Sie mich? Für einen Zauberer?« Irritiert hielt er inne, denn Stahnkes verkniffene Miene gab ihm Rätsel auf. Wie hätte der Gerichtsmediziner auch wissen können, dass sein Gegenüber ihn in Gedanken gerade eben genau mit einem Hexenmeister verglichen hatte und sich das Lachen jetzt nur mit Mühe verbeißen konnte?

      »So schnell ist das LKA nun einmal nicht«, assistierte Kramer dem Doktor. »Das wissen wir doch zur Genüge.«

      »Nach Hannover haben Sie die Proben zur Analyse geschickt?« Stahnke schüttelte den Kopf. »Das darf doch nicht wahr sein! Gegen das Landeskriminalamt sind Schnecken die reinsten Rennpferde. Die lassen uns doch warten, bis wir schwarz werden.«

      »Nicht in Mordsachen«, widersprach Mergner. »Machen Sie mir die Kollegen dort nicht schlechter, als sie sind. Die wissen auch Prioritäten zu setzen.«

      »Tja, wenn die Bildzeitung drängelt und ein Skandal droht! Dann vielleicht.« So leicht war der Hauptkommissar nicht zu besänftigen. »Haben Sie die Sendung denn wenigstens entsprechend gekennzeichnet?«

      Mergner schluckte und schwieg.

      Stahnke stöhnte. »Los, Mann, sorgen Sie mir dafür, dass eine zweite Probe in ein privates Labor gegeben wird, mit Eilvermerk. Wir müssen hier endlich von der Stelle kommen.«

      Der Mediziner schnappte nach Luft. »Ohne offizielle Anordnung? Und wer zahlt das? Soll ich die Rechnung gleich an Sie persönlich schicken lassen?«

      Stahnke wandte sich Kramer zu. »Ruf Manninga an, sag, dass der Laborbefund eilt und dass wir grünes Licht brauchen. Schönen Gruß. Ach ja, und wenn du ihn schon an der Strippe hast: Er soll doch bitte auch in Hannover Druck machen. Doppelt hält besser. Mal gucken, wer am Ende das Rennen macht.« Er drehte sich zurück, legte Mergner einen Arm um die Schultern, schob ihn wie beiläufig zur Tür: »Schönen Dank so weit, dann sehen wir mal zu, dass es weitergeht, wir beide, nicht wahr?«

      Etwas später tauchte Kramer vor Stahnkes Schreibtisch auf. »Läuft alles, so wie gewünscht«, teilte er mit, knapp und effizient wie immer. Dann verharrte er stumm, bis der Hauptkommissar sich bequemte, den Blick zu heben. »Dass die Anzahl deiner Freunde gerade um einen halben geschrumpft ist, weißt du ja wohl, oder?«

      »Ein halber Freund? Was kann man damit schon anfangen.« Stahnkes Schmunzeln fiel dünn aus. »Schöntuerei bringt keine Resultate, und Resultate sind das Einzige, was mich interessiert. Das war doch schon immer so.«

      Der Oberkommissar nickte. »Stimmt, du hattest hier noch nie viele Freunde.«

      Stahnke zuckte die Achseln. »Sollen sie ruhig auf mich schimpfen, solange sie in der Sache funktionieren. Hauptsache … wir haben Erfolg.«

      Kramer blickte ernst auf seinen Vorgesetzten herab. Dass der sich erst im letzten Moment besonnen hatte und vom »Ich« zum »Wir« gewechselt war, war ihm nicht entgangen. »Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er leise. »Vielleicht sind demnächst auch halbe Freunde verdammt wichtig.«

      Stahnke hielt Kramers Blick nicht stand. Er senkte den Kopf, wischte ein paar imaginäre Krümel von seinem Schreibtisch und erwiderte schroff: »Hör auf zu unken. Sag mir lieber, wie wir weiter vorgehen. Geben wir das Foto des Toten nun an die Presse oder nicht?«

      Das Bild war ganz manierlich geworden; das markante Antlitz war nicht auf den ersten Blick als das einer Leiche zu erkennen.

      »Wenn der Mann hier aus der Gegend stammt, müsste ihn jemand erkennen«, sagte Kramer. »Andererseits hat die Vermisstenstelle keine Anzeige vorliegen, die auf unseren Toten passt. Also könnte er auch ganz woanders herstammen. Dann bringt die regionale Veröffentlichung nichts. Aber der Täter weiß dann, dass wir die Leiche gefunden haben, was von Nachteil sein könnte.«

      »Theoretisch ja; praktisch wüsste ich nicht, welcher Nachteil das sein sollte, da wir ja noch nicht einmal einen Anfangsverdacht haben«, erwiderte Stahnke. »Andererseits sollten wir vielleicht doch den DNA-Abgleich abwarten.«

      »Den haben wir hoffentlich morgen, so oder so«, sagte Kramer.

      »Morgen also. Bis dahin warten wir noch ab.« Immerhin eine Entscheidung, dachte Stahnke. Wenn schon kein Ergebnis.

      8.

      Niemand hatte den Riesen kommen sehen. Plötzlich war er da wie aus dem Boden gewachsen.

      Der Kohlenhändler sah ihn als Erster. Hackes hatte das lose Ende des Taus, das er den beiden Gefesselten um die Leiber geschlungen hatte, schon zu Janssen ins Boot gereicht, und der war gerade dabei, einen Palstek hineinzuknüpfen und es an der eisernen Heckklampe der Motorbarkasse zu befestigen. Jeder seiner Handgriffe wurde erwartungsvoll beäugt. Das Pochen des Bootsdiesels beschleunigte sich. Gleich würde die Barkasse ablegen, die Leine würde sich unter dem Zug straffen und den beiden Männern den Boden unter den Füßen wegreißen. Sicherlich würde ihnen die Kante der Kaimauer noch einen harten Schlag verpassen, ehe das Boot sie unter Wasser zog. Der Zug der Leine würde sie anschließend wieder an die Oberfläche befördern, wo sie verzweifelt nach Luft schnappen würden, ehe es wieder abwärts ging, wieder und wieder. Am Ende würden sie quälend langsam ertrinken, ertränkt von einer Mörderhorde, die heute früh noch eine Ansammlung ganz gewöhnlicher rheiderländer Ostfriesen gewesen war. Letzter Gruß von Jemgum, der Perle des Rheiderlandes, schoss es Erika durch den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich ihrer Heimat.

      Aber sie schämte sich auch ihrer selbst. Warum schrie sie nicht, warum rief sie nicht »Halt, ihr Mörder!«? Weil sie wie gelähmt war vor Angst. Weil niemand sonst es tat. Und warum tat es wohl niemand? Weil kein anderer es tat? Ja, dachte Erika, wahrscheinlich funktioniert es so.

      Es funktionierte wirklich gut.

      Aber dann war der Riese plötzlich da. Hoch ragte er auf vor Hackes, dem Kohlenhändler, der den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ein finsterer Blick Fleischhauers trieb den Nazi einen Schritt zurück. Der Riese riss ihm das Tau aus den Händen, ruckte am losen Ende. Janssen, der die Palstek-Schlaufe gerade über die Klampe streifen wollte, griff ins Leere.

      Ein Raunen ging durch die Gaffermeute. Was fiel dem Schuster ein, sich mit den Nazis anzulegen, mit der ersten und inzwischen längst einzigen Gewalt im Staate? Was gingen ihn diese Juden an, dass er sein Leben für sie riskierte? Denn sein Leben, so viel stand fest, hatte er verwirkt. Jeder, der den Nazis Widerstand leistete, starb. Das glaubte, das wusste jeder. Entweder er starb an Ort und Stelle, oder er verschwand und blieb verschwunden.

      Fleischhauer trug seine blaue Arbeitsschürze über seiner Alltagskluft. Für Markt und Müßiggang schien er keinen Sinn oder keine Zeit zu haben. Die Hemdsärmel hatte er hochgekrempelt, und auf seinen Unterarmen traten Muskeln hervor, dicker als das Tau, das er in seinen Händen hielt. Kein Wunder, dass dem Kohlenhändler das Herz in die Hose gerutscht ist, dachte Erika.

      Der erste Schreck aber war schnell überwunden. Die Nazis hatten

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