Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes

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lässt, bin angezogen wie eine alte Frau, und dir gefällt das auch noch! Und ich dachte, du kannst die Nazis nicht leiden! Hast du dich etwa bekehren lassen?«

      Erikas Großmutter hob abwehrend ihre Hände. »Geh mir bloß weg mit Hitler!« Ihre Weltanschauung war fest gefügt, und zwar schon lange vor der Weimarer Republik und den Nationalsozialisten – allerdings aus ziemlich widersprüchlichen Komponenten. Da war zum einen der Geist der Kaiserzeit, den sie in ihrer Jugend mit der Muttermilch eingesogen hatte. Zum anderen gab es die Ideale der Arbeiterbewegung, für die ihr Ehemann sie begeistert hatte. Und dann war da noch die allgegenwärtige Kirche mit ihrer allsonntäglichen Indoktrination. Für die Nazi-Ideologie gab es da keinen Platz mehr; sie war einfach zu spät gekommen.

      Außerdem hatten die Nazis ihr den Mann genommen. Die Braunen hatten bei ihr verspielt, gründlich und für immer. Dieser Abneigung machte sie gelegentlich Luft, obwohl sie wusste, wie riskant das war. Auch jetzt musste ein saftiger Fluch her. »Hitler!« Sie spuckte den Namen förmlich aus. »Hitler, de oll Jööd!«

      »Aber Oma!« Erika schlug sich die Hände vor den Mund, teils vor Schreck über solchen Leichtsinn, teils, um nicht laut herauszuplatzen. »Weißt du eigentlich, was du da sagst?«

      Es pochte an der Tür. Die alte Frau und das Mädchen, das wie eine alte Frau angezogen war, fuhren erschrocken zusammen. Und gleich darauf noch einmal, denn das laute, fordernde Pochen wiederholte sich. Schutzsuchend drückte sich Erika an ihre Großmutter. Sie konnte spüren, wie Oma zu zittern begann.

      Dann flog die unverschlossene Tür auf, und lautes, helles Lachen ertönte. Zweistimmiges Lachen, denn außer Stinus drängte sich noch ein weiterer Junge in den Korridor. Er war etwas größer als der Pimpf, der wieder seine Uniform trug, allerdings mit langen Hosen und einem Mantel darüber. »Ha!«, rief Stinus übermütig. »Rollkommando! Darauf wart ihr nicht gefasst, was? Aber keine Angst, alles nur Spaß.« Er grüßte Erikas Großmutter flüchtig, ohne ihr richtig ins Gesicht zu blicken, und wenn ihm auffiel, dass sie leichenblass war, dann zeigte er es nicht.

      Erika hatte sich von ihrer Oma gelöst und starrte den anderen Jungen an. Er wirkte kräftig, hatte braunes Haar, schmale Hände und ein freundliches Gesicht. Sieht nicht schlecht aus, dachte sie. Aber wer ist das, und was macht er hier? Schließlich hatte sie ein Abkommen mit Stinus und mit niemandem sonst.

      »Das ist Fritz«, sagte Stinus, der ihren Blick bemerkt hatte. »Er wohnt jetzt bei Fleischhauers. Ich hab gesagt, er kann mit zum Gallimarkt nach Leer. Hast doch nichts dagegen, oder?«

      Erika schüttelte nachdenklich den Kopf. Evert Fleischhauer war Schuster, trotz seines Namens und seiner Erscheinung. Er war der größte und breiteste Mann, den Erika jemals gesehen hatte, hatte das finsterste Gesicht, das sie sich vorstellen konnte, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Es fiel leicht, sich auszumalen, wie dieser Fleischhauer ein totes Schwein oder auch ein Rind mit einem langen Beil in Hälften und Viertel teilte, ohne sich anzustrengen. Tatsächlich aber hockte der Riese von morgens bis abends zusammengekrümmt in seiner Schusterwerkstatt im Tiefparterre unter seiner Wohnung, hantierte mit Leder, Ahle und Garn, reparierte Schuhe und fertigte neue an. Mittags und abends ging er die Stiege hoch in seine Wohnung, wo ihn seine Frau und nicht weniger als neun Kinder erwarteten, davon sieben Jungen. Erika kannte sie alle aus der Schule, wilde Burschen, die keiner Rauferei aus dem Wege gingen, ohne wirklich bösartig zu sein. Keiner davon ähnelte diesem Fritz auch nur entfernt. Na ja, trotzdem konnte er ja ein Verwandter sein, vielleicht ein entfernter. Warum sonst sollte einer bei Fleischhauers wohnen, wo es bestimmt sehr eng und schrecklich laut zuging, noch enger und lauter als in anderen wenig betuchten Familien?

      Stinus drängte sich an Erika vorbei und stiefelte ganz selbstverständlich den Flur entlang zur Vorderküche, Fritz im Schlepptau. Offenbar hatte er ihm von dem wunderbaren Schiffsmodell unter dem Glassturz erzählt und wollte es ihm zeigen, ganz so, als sei er hier zu Hause. Fritz schenkte Erika immerhin einen entschuldigenden Blick, während er Stinus hinterhertrottete.

      Erikas Großmutter schien sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen zu haben. »Machst du uns noch einen Kakao?«, fragte das Mädchen. »Dann haben wir wenigstens etwas Warmes im Bauch, wenn wir gehen. Ist ja schon ziemlich kalt draußen.« Immerhin war es bereits Mitte Oktober.

      »Kannst mir helfen dabei.« Oma lächelte schon wieder, stellte Erika erleichtert fest. Wenn auch etwas dünn. Aber das war ja nach dem Schreck kein Wunder.

      Erika fischte ein Steertpanntje aus dem Topfschrank, goss etwas Milch hinein, stellte es auf die heiße Platte und ließ es nicht aus den Augen, während ihre Großmutter das exotisch bedruckte Paket mit dem kostbaren braunen Pulver aus dem Küchenschrank holte. Kakao war Luxus, wie alles, was aus Übersee kam, und er schien immer teurer zu werden. Angeblich waren die Engländer schuld, hieß es, weil sie den Deutschen die afrikanischen Kolonien weggenommen hatten, die ihnen doch rechtlich zustanden, und damit den Platz an der Sonne. Die Strafe dafür werde das perfide Albion schon bekommen, hatte Erikas Schulleiter erst kürzlich wieder verkündet. Erst nach und nach hatte sie verstanden, dass Albion England bedeutete und Strafe wohl Krieg. Da hatten ihre Schulkameraden schon lauthals gejubelt.

      Oma gab mit einem Teelöffel Kakaopulver und Zucker in die schnell wärmer werdende Milch und wies Erika an, immer kräftig zu rühren, damit nichts anbrannte. Dann angelte sie Becher von den Haken unter dem Tellerbrett und wischte sie mit einem Tuch aus. Dabei zwinkerte sie Erika verschmitzt zu. »Zwei gleich, was?«, raunte sie. »Du gehst ja ran wie Blücher an der Katzbach!«

      »Was meinst du?« Erika braucht einen Moment, ehe sie die Anspielung verstand. Dann lief sie tiefrot an. »Also Oma, nun hör mal! Was denkst du denn von mir? Ich hatte doch keine Ahnung!«

      Erikas Großmutter lachte gutmütig. »Mach dir bloß keine Gedanken! Was glaubst du denn, wie ich früher war! Zugegeben, ganz so früh wie du habe ich nicht angefangen. Aber dafür dann richtig. Als ich siebzehn war, da habe ich mich zum Gallimarkt nämlich gleich mit drei jungen Männern verabredet.«

      Erika bekam runde Augen. »Drei? Etwa am selben Tag?«

      Ihre Oma kicherte wie ein Backfisch. »Na klar, am selben Abend, zur selben Zeit. Sie hatten mich alle drei gefragt, und ich dachte, na ja, wenn sie so gerne wollen, warum soll ich sie enttäuschen?«

      Fast hätte Erika den Zeitpunkt verpasst, als die erhitzte Kakaomilch zu schäumen begann. Im letzten Moment zog sie den Stieltopf zum kühleren Rand des Herdes, goss Milch nach und rührte energisch. »Und … und was dann?«, fragte sie atemlos. »Sind die dann alle drei gekommen? Und was haben sie denn dazu gesagt?«

      »Keine Ahnung.« Erikas Großmutter nahm ihr das Steertpanntje aus der Hand und verteilte den Inhalt auf drei Becher, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. »Ich war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt«, sagte sie dann, »und bin mit dem ersten der drei, der dort auftauchte, mitgegangen.«

      »Aber Oma!« Erikas Ohren waren immer noch heiß. »Wie das klingt. Was hätte Opa wohl dazu gesagt?«

      »Kindchen, der Erste, der kam, war doch dein Opa!«

      Die Küchentür flog auf. »Ah, lecker!« Stinus kam hereingepoltert, griff ohne Umstände nach einem der dampfenden Becher und trank, ohne sich an der Haut zu stören, die sich bereits auf der braunen Flüssigkeit gebildet hatte. Fritz schien besser erzogen zu sein, er wartete, bis ihm ein Becher angeboten wurde, und bedankte sich höflich. Die Milchhaut schob er mit einem Löffel beiseite. Nach dem ersten Schluck zog er anerkennend die Augenbrauen hoch. Wie erwachsen das aussah! Und so … kultiviert. Gar nicht so, wie es bei den Fleischhauers zugehen musste, wenn man Stinus Glauben schenkte.

      Stinus, bei sich zu Hause der einzige Junge, hielt sich gerne bei der Schusterfamilie auf, weil es dort an Spiel- und

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