Zorn und Zärtlichkeit. Peter Gerdes

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Zorn und Zärtlichkeit - Peter Gerdes

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Daheim auf dem Polderhof wartete weit edleres Essen auf ihn, zubereitet von einer Köchin, die ihr Handwerk verstand. Stinus aber hatte lieber bei karger Kost seinen Spaß, als zu Hause mit steifem Rücken Filet oder Lammbraten zu speisen, immer wieder zurechtgewiesen von seinen gestrengen Eltern, die sich, trotz ihres bescheidenen Wohlstands, ihrer eigenen Herkunft schämten. Was ihr Sohn ausbaden musste.

      Manchmal aber, wenn es die Jungs bei Fleischhauers zu toll trieben, verdunkelte sich das ohnehin meist finstere Gesicht des Hausherrn noch mehr. Dann erhob er seine imposante Gestalt vom Kopf der langen, aus selbst gehobelten Brettern gezimmerten Tafel und nahm unter dem Türrahmen Aufstellung, den Kopf geduckt, um überhaupt Platz zu finden. »Alle Mann raus!«, knurrte er dann mit tiefer Stimme; jeder tat gut daran, diesem Kommando ungesäumt Folge zu leisten. Und jeder, der sich an dem Riesen vorbei nach draußen drückte, erhielt eine krachende Kopfnuss, egal ob mehr oder minder schuldig, ob eigener Sohn oder Gast. Auch Stinus bezog stets seinen Anteil, nicht selten hochverdient. Und trotzdem kam er immer wieder.

      Obwohl Stinus gierig trank, hatte Fritz seinen Becher als Erster leer. »Vielen Dank, Frau Albers«, sagte er so wohlerzogen, dass Erikas Großmutter erstaunt blinzelte. »So was Feines bekommt man nicht alle Tage.«

      Stinus knallte nur seinen leeren Becher auf den Tisch; bei ihm zu Hause schien Kakao keiner Erwähnung wert zu sein. »Los jetzt, kommt!«, rief er. »Wir müssen endlich aufbrechen, sonst wird es dunkel, ehe wir überhaupt in Leer sind.«

      Das war zwar weit übertrieben, denn noch war es früher Nachmittag, aber inzwischen hatte das Gallimarktfieber auch Erika gepackt. Sie griff nach ihrem Mantel – und stellte überrascht fest, dass ihre Großmutter im Begriff war, Kopf und Schultern in ein großes schwarzes Umlegetuch zu hüllen. »Was ist, willst du auch noch los?«

      »Ich bringe euch natürlich bis zur Fähre«, erklärte die alte Frau bestimmt. »Was sollen denn sonst die Leute denken.« Auch lautes Stöhnen konnte sie von diesem Entschluss nicht abbringen. Reichte es nicht, dass Stinus verdonnert worden war, gleich nach der Ankunft seinen in Leerort wohnenden Onkel aufzusuchen, der sie zum Gallimarkt und anschließend zurück zur Fähre begleiten sollte? Als ob sie noch Kleinkinder wären, die ständiger Aufsicht bedurften! Dabei behaupteten die Nazis doch stolz, Deutschland so viel sicherer gemacht zu haben.

      So schoben sie ihre Räder, anstatt zu fahren, denn Erikas Oma besaß kein eigenes Rad. Auch Erika nicht; ihre Großmutter hatte für sie eins bei einem Nachbarn erbettelt, der in Ditzum auf der Werft arbeitete und täglich dorthin radelte. Weil er an diesem Samstag frei hatte, konnte er darauf verzichten, wenn auch nur zögernd; gleich mehrmals hatte er Erika und ihrer Großmutter eingeschärft, das gute Stück ja nicht zu beschädigen oder sich etwa stehlen zu lassen. Zum Glück handelte es sich um ein altes Damenrad, und der Sattel ließ sich niedrig genug einstellen, dass Erika mit den Zehenspitzen an die Pedale kam.

      Beim Ausprobieren hatte sie festgestellt, dass sie seit letztem Jahr beträchtlich gewachsen sein musste. Ein Gedanke, der sie mit einer Zufriedenheit erfüllte, die sie nicht recht zu deuten wusste. Wie sich auch ihre Vorfreude auf den Gallimarkt zwiespältig und verwirrend anfühlte. Einerseits war ihr nach Hüpfen und Juchzen zumute, andererseits wäre ihr das albern und kindisch vorgekommen. Also ging sie gesittet neben ihrem Fahrrad her. Aber ihre Wangen brannten.

      Was es wohl auf dem Jahrmarkt alles zu sehen und zu erleben gab? Klassenkameradinnen, die letztes Jahr mit ihren Eltern nach Leer gefahren waren, hatten in höchsten Tönen geschwärmt. Bodenkarussells und Schiffsschaukeln, Kettenkarussells und »Lustige Tonnen«, in denen sich einem der Boden unter den Füßen wegdrehte, sollte es dort geben, außerdem Schieß- und Losbuden, Ringewerfen, Rhönräder, Ponys und Buden mit Schmalz- und Honigkuchen und Zuckerzeug. Glänzende Augen hatten die Mädels beim Erzählen gehabt – und sie hatten auch damit geprahlt, wie viel Geld sie dort in wie kurzer Zeit ausgegeben hatten.

      Erika fand das alles teils mehr, teils weniger interessant. Was sie aber wirklich faszinierte, waren die abenteuerlichen, die exotischen, die kuriosen Attraktionen. Zauberkünstler zum Beispiel, ein Marionettentheater oder gar Liliputaner. Von Lebendem Meissner Porzellan war die Rede; was das wohl zu bedeuten hatte? Und ob man auch Tiere mit zwei Köpfen zur Schau stellte oder Damen mit Vollbärten?

      Bloß gut, dass sie genug Taschengeld gespart hatte, um sich das eine oder andere leisten zu können, dachte Erika. Von ihrer Großmutter hätte sie für den Gallimarkt bestimmt keinen Pfennig bekommen. Als echte Rheiderländerin war Oma »sühnig«, was so viel wie sparsam bedeutete. So nannte sie das jedenfalls selbst. Andere, vor allem die Leeraner von jenseits der Ems, nannten ihre Nachbarn unverblümt »grannig«, nämlich geizig. Was sicherlich ungerecht war, denn die Rheiderländer waren in der Mehrzahl schlicht arm und hatten nichts zu verschenken. Ihre Oma allerdings, das musste Erika im Stillen zugeben, konnte zuweilen schon ziemlich grannig sein. Dem Mädchen war es jedes Mal unheimlich peinlich, wenn die alte Dame in einem Geschäft das gesamte Sortiment ausgiebig musterte, nur um dann zu erklären: »Schade, dass ich mein Knippke heute nicht einstecken habe.«

      Wenn ihre Oma etwas außer der Reihe kaufte, dann oft beim »Koffermann«, einem Juden, der als fliegender Händler öfters nach Jemgum kam und Wolle, Garn, Nähnadeln und allerhand andere Kurzwaren günstig auf der Straße anbot. In letzter Zeit schien sie das sogar besonders oft zu tun, überlegte Erika. Dabei war das direkt gefährlich geworden, seit Jan de Bruin, ein fanatischer Nazi, alle Kunden des »Koffermanns« fotografierte und drohte, sie als Judenfreunde anzuprangern: »Morgen stehst du im Stürmer!« Auch ihre Großmutter hatte dieser Kerl schon bedroht. Trotzdem ging sie immer wieder zu dem Juden, als sei das ein riskantes, aber reizvolles Spiel. Oder vielleicht eine Mutprobe? Aber wem wollte ihre Oma denn etwas beweisen?

      Das Wetter war genau richtig für den Gallimarkt, recht kalt, aber sonnig; der Septemberregen war klarer, herber Spätsommerwitterung gewichen. Das Haus von Erikas Großeltern lag praktisch auf der Grenze zwischen Neu-Jemgum und dem alten Ortskern, so war es zur Emsfähre nicht weit.

      Doch kaum hatten sie die Oberfletmerstraße erreicht, wurden sie durch einen Menschenauflauf gestoppt. »Nun mal Platz hier, wir müssen zur Fähre, die wartet nicht«, rief Stinus laut mit heller, schon befehlsgewohnter Stimme. Niemand achtete auf ihn, auch nicht, als sich der Pimpf mit Hilfe seines Rades durch den Pulk zu drängeln begann; die Leute traten ohne sich umzublicken gerade weit genug beiseite, um ihre Mäntel in Sicherheit zu bringen. Erika und die anderen hielten eilig Anschluss. So peinlich ihnen Stinus’ Verhalten auch war, ihre Neugier überwog.

      Vor ihnen auf der Straße stand ein großes schwarzes Auto, ein Personenwagen mit langer Motorhaube, hohem Kühlergrill und rundem Kofferraumbuckel. So etwas sah man in Jemgum nicht alle Tage. Das allein aber war es nicht, was die Leute so zum Gaffen brachte. Auch nicht, dass der Wagen schräg auf der Fahrbahn stand, als hätte sich die Besatzung an keinerlei Regeln zu halten. Vor dem Auto stand eine Gruppe von Männern, einige in braunen SA-Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden, andere in Zivil. Erika erkannte Janssen in seiner schwarzen SS-Kluft, der weit ausholend gestikulierte, den drohenden Blick ebenso unstet wie seine Haltung, den Mund von gehässigem Lachen verzerrt. Anscheinend hatte er mal wieder dienstfrei, und er war betrunken, obwohl es heller Nachmittag war. Ebenso wie der Mann neben ihm. Erika zuckte zusammen, als sie ihn erkannte. Es war ihr Vater. Seit wann war der denn aus Hamburg zurück?

      Sie spürte die Hände ihrer Großmutter auf ihren Schultern, fühlte sich vorwärtsgedrängt. Aber sie kamen nicht an Stinus und seinem Rad vorbei. Der Junge besah sich die Szene mit großen Augen, als sei sie die Ouvertüre des Jahrmarktprogramms, und dachte gar nicht daran, den Weg fortzusetzen oder freizugeben.

      Ob alle Männer angetrunken waren oder nur die beiden, konnte Erika nicht ausmachen. Jedenfalls wurde mit erhobenen Stimmen geredet, erregt, wütend und durcheinander. Zu verstehen war nicht viel. Die Männer bildeten einen Halbkreis vor dem großen Auto und wandten ihrem Publikum zumeist den Rücken zu. Warum? Erika stellte sich auf die Zehenspitzen.

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