Dattans Erbe. Nancy Aris
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Hier lief alles in Zeitraffer. Ich dachte daran, dass ich vor wenigen Stunden nicht einmal wusste, wo ich die Nacht verbringen sollte. Jetzt hatte ich eine Wohnung, eine nette Nachbarin, die offenbar der Schlüssel zu einem mir fremden Mikrokosmos war.
Besser hätte es nicht sein können. Wenn da nicht die Geschichte mit Olga gewesen wäre. „Gern. Aber morgen habe ich zu arbeiten. Ich kann erst am Nachmittag, so gegen fünf.“
„Sehr gut, klopfen Sie einfach bei mir, wenn Sie da sind. Rechts neben Wolodja. Ich bin zu Hause. Meist bin ich da, weil ich von zu Hause aus arbeite. Ich bin Übersetzerin.“
Auch darüber hatten wir kein Wort gesprochen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, ging ich noch einmal in mein neues Domizil. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und staunte über den Ausblick. Ja, ich hatte mich richtig entschieden und ich hatte Glück, denn das Hochhaus vor „unserem“ Block lag links von mir. Ich konnte aufs Meer blicken, aber meine Nachbarn fünfzig Meter weiter links schauten auf den Zwanziggeschosser. Wer kam nur auf so eine Idee?
Dann fuhr ich zum Hotel. Im Bus dachte ich die ganze Zeit an Olga. Mir ging die Geschichte nicht aus dem Kopf. Eigentlich war es ja gar keine Geschichte, sondern nur Fragmente und Fetzen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das, was Tatjana mir erzählt hatte, überhaupt stimmte.
Marina saß immer noch an der Rezeption, offenbar im Dauerdienst rund um die Uhr. Kein Wunder, dass ihre Freundlichkeit irgendwann erschöpft war.
„Und, wie finden Sie die Wohnung? Ist es nicht ein Schmuckstückchen? Ein richtiges kleines Liebesnest, nicht wahr?“
Ich wunderte mich über ihre Offenherzigkeit, denn heute Morgen lautete die Anweisung noch strikt „im Hotel kein Wort!“.
„Man könnte sicherlich Einiges daraus machen, der Ausblick ist toll“, antwortete ich nicht allzu diplomatisch. Ich hatte keine Lust auf das ewige Süßholzraspeln, bei dem jeder wusste, dass der andere ihm etwas vorlog und trotzdem mitmachte. Mir ging Olga nicht aus dem Kopf, darüber wollte ich mehr erfahren.
„Wissen Sie, warum die Vormieterin ausgezogen ist? Kennen Sie sie vielleicht?“
Marina schaute etwas erschrocken auf. Gleichzeitig überspielte sie ihre Unruhe mit einer etwas zu schnell ausgesprochenen Floskel. „Heute die, morgen jene. Wenn ich mir das alles merken wollte, bräuchte ich einen Elefantenkopf.“
Ich wollte so schnell nicht aufgeben, denn heute Morgen hatte Marina erwähnt, dass Olga drei Jahre dort gewohnt hatte. Nichts Flüchtiges. „Olga, sie hieß Olga. Sie selbst haben mir doch in Ihrem Brief geschrieben, dass sie sehr lange dort gewohnt hat. Und jetzt wissen Sie plötzlich gar nichts von ihr?
Marina schaute nach unten. Das alles war ihr furchtbar unangenehm. Das Gespräch war damit beendet.
Eine Stunde später war ich wieder in meinem Block. Da ich nichts zu essen hatte, zog ich gleich wieder los. Kein zweites Mal wollte ich ohne Tee und Gebäck dastehen, wenn Tatjana käme. Gleich hinter unserem Haus gab es ein Lädchen, wo sich die Studenten mit Wodka, Zigaretten und den nötigsten Lebensmitteln eindeckten. Ich fand, was ich brauchte.
Mir gefiel der weitläufige Campus der Meeres-Universität, überall junge Leute – die Studenten mit ihren Freundinnen, grüppchenweise Matrosen, mal in blauer, mal in weißer Uniform. Mein erster Tag fern der Borneckerschen Obhut ging langsam zu Ende und ich fand, dass er gar nicht schlecht verlaufen war.
Regentin des Lesesaals
Die Lesesaalchefin schaute etwas desinteressiert von ihrem Buch auf. Offenbar hatte ich sie beim Lesen gestört.
„Ihren Passierschein bitte! Und“, sie zeigte auf eine aufgeschlagene Kladde an der Seite ihres Tisches, „tragen Sie sich ins Benutzerbuch ein.“ Sie verschwand in den Hinterraum, holte meine Akten und legte sie genau auf den Tisch, an dem ich vorgestern gesessen hatte. Dann ging sie wieder zu ihrem Platz und sagte fast lautlos: „So dringend scheint es ja doch nicht zu sein …“
Sollte ich darauf reagieren? War sie im Selbstgespräch? Wer wollte dabei schon ertappt werden? Natürlich war es kein Selbstgespräch, sondern ein Seitenhieb, weil ich gestern nicht da war. Ich musste was sagen, denn ich wollte nicht als faul oder unzuverlässig dastehen.
„Ich musste mich gestern um eine Unterkunft kümmern. Das hat sich hingezogen. Tut mir leid.“
Ljudmila saß mittlerweile wieder hinter ihrem Buch und schaute nur kurz auf. Ihr Blick galt jedoch nicht mir, sondern einem imaginären Punkt neben der Eingangstür. Diese gespielte Ignoranz … Ich wusste ganz genau, dass sie zu gern wüsste, was die Neue aus Deutschland zu berichten hatte. Aber auch ich konnte ignorant sein. Also setzte ich mich wortlos an meinen Tisch und begann zu blättern. Die Akten nahmen mich mit in eine andere Welt. Allein das steife Papier, die aufwendigen Briefbögen und die verschnörkelte, mit Federkiel zu Papier gebrachte Schrift, begeisterten mich. Man sah, dass dieser Art Korrespondenz eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Trotzdem war es kompliziert, das alles zu entziffern. Ich war langsam, verstand fast nichts. Erst nach und nach fuchste ich mich ein. Und obwohl ich kaum etwas fand, das mich weiterbrachte, durchblätterte ich mit Vergnügen einen Folianten nach dem anderen. Notizen machte ich kaum welche. So saß ich bis zum Nachmittag da. Nur einmal ließ ich mir ein Findbuch geben, um neue Akten zu bestellen. Mir dämmerte, dass ich auf diese Weise das Tagebuch nie finden würde. Aber ich verstand mehr und mehr, worum es eigentlich ging. Adolph Dattan war jemand, der in der Bürgerschaft der Stadt einen zentralen Platz innehatte. Er war in unzähligen Gremien, engagierte sich für dieses und jenes, hatte Geld und Einfluss. Die dicken Bände verrieten, dass er angesehen war und die Geschicke der Stadt wesentlich mitbestimmte. Was er nicht alles gefördert hatte … Die Universität hätte es ohne sein Zutun sicher so nicht gegeben. Doch war er nicht nur geachtet, sondern auch beliebt. Die Menschen schätzten ihn – nicht nur seine Geschäftspartner, auch seine Mitarbeiter, ja sogar die Kunden.
Ljudmila schaute ab und an hinter ihrer Brille zu mir rüber, immer unauffällig, aber doch wachsam prüfend. Ich war ein Fremdkörper in diesem Lesesaal und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Eine Historikerin, die nichts aufschrieb, die nur blätterte, manchmal schmunzelte, zuweilen sogar lachte. Ja, einmal musste ich wirklich laut lachen. Dattan war zum Schweizer Honorarkonsul berufen worden und hatte zudem einen Verdienstorden erhalten. Nun befand er es als vordringliche Angelegenheit, die Gouvernementverwaltung über diesen Sachverhalt zu informieren, damit diese die Titel bei künftigen Einladungsschreiben bitte entsprechend verwenden möge.
Dass so jemandem von heute auf morgen fast alles genommen wurde, nicht nur der Besitz, sondern vor allem die Ehre, muss ein Schock gewesen sein. Einen kurzen Moment dachte ich an Olga. Auch sie hatte offenbar viel verloren, aber von ihr wusste ich noch viel weniger. Ich hing in Gedanken ihrer Geschichte nach, dann schaute ich wieder in die Akten. Nein, ich durfte mich nicht verzetteln. Nachher würde ich Tatjana sehen, vielleicht würde ich dann mehr erfahren.
Als ich meine Arbeit beendet hatte und die Akten zum Tisch brachte, kam ein kurzes: „Zurück?“. Ich wusste, dass das im Archiv ausgesprochene „Zurück?“ eigentlich ein: „ganz zurück, ins Depot?“ bedeutete. Keiner gab gern Akten „ganz zurück“. Man konnte nie wissen, ob nicht doch noch etwas nachgeschaut werden musste. Ich brauchte aber keine Nachschlagesicherheit und hatte