Dattans Erbe. Nancy Aris
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Dann fuhren wir zum alten Familiensitz, den die Erben unlängst veräußert hatten. Eine riesige Villa, direkt an der historischen Stadtmauer. Im Nachhinein bereute ich es, nicht mit ins Haus gegangen zu sein.
Ursula und Siegfried hatten es mir angeboten. Aber ich hatte abgelehnt, weil sie einen Termin mit der neuen Besitzerin hatten. Da wollte ich nicht stören. Jetzt war mir klar, dass ich nie mehr so einfach in diese Villa kommen würde.
Versal & Flober
Die Fahrt in die Stadt mit dem Aeroexpress dauerte eine Dreiviertelstunde. Der Flughafen lag weit draußen. Wir fuhren am Meer entlang, durch kleine Dörfer. Alles schien wie vor zwanzig Jahren. Dann aber kamen die ersten Vorortsiedlungen – neu gebaute Häuser, darunter kitschige Villen und protzige Anwesen. Ein Sammelsurium verschiedenster Stile. Neureiche Hässlichkeit. Dann durchfuhren wir die obligatorischen Neubauviertel. Da war sie, die alt bekannte Sowjettristesse, gut konserviert. Schließlich erreichten wir das Zentrum. Der Bahnhof lag direkt oberhalb des Hafens. Von Weitem waren Verladekräne und Frachter zu sehen und schrille Lautsprecherdurchsagen zu hören. Offenbar koordinierten sie das Be- und Entladen. Auf Anhieb mochte ich die Nähe zum Meer und diese Geschäftigkeit. Es war eine spröde Schönheit. Nichts, das mit einem verwinkelten Küstenort an der Amalfi-Küste zu vergleichen war. Das, was da unten vor mir lag, war kein Touristenmeer. Ich sah riesige Containerschiffe. Hier löschte man Ladung, belud aufs Neue. Frachter wurden betankt und gewartet. Container auf Züge geladen. Ich dachte, dass die Gleise da unten nicht irgendwelche Gleise waren. Dort, am Hafen, endete die Transsibirische Eisenbahn nach knapp 10 000 Kilometern Strecke. Die Züge, die von hier auf die Reise gingen, hätten einen weiten Weg vor sich. Aber warum ans Wegfahren denken, ich war ja gerade erst angekommen. Ab ins Hotel, dachte ich. Gut, dass ich mir eine kleine Wegbeschreibung ausgedruckt hatte, denn weder auf dem Flughafen noch auf dem Bahnhof war ein Stadtplan zu bekommen. Zumindest das hatte sich nicht geändert. Das Hotel war nicht weit weg. Siegfried Bornecker hatte darauf bestanden, mich die ersten Nächte im Stadtzentrum unterzubringen. Aber nicht irgendwo. Nein, es sollte das Versal sein, wo er mich „mit allem Komfort und ein bisschen so wie früher“ einquartieren wollte.
„Wenn Sie erst einmal dort sind, Anna, können Sie unterkommen, wo es Ihnen beliebt. Machen Sie mit Ihren Spesen, was Sie wollen, aber ich möchte, dass Sie, wenn Sie ankommen, zumindest ein einziges Mal den Geist der alten Zeit atmen, auch wenn die Konkurrenz damals dort saß.“
Die Konkurrenz … Tschurin & Co. hatten damals ein Konditorgeschäft dort. Ich holte meinen Google-Plan aus der Tasche. Der Weg war einfach: einmal nach rechts, dann an der nächsten großen Kreuzung links. Ich musste zur Swetlanskaja Ulitza, damals wie heute eine Prachtstraße und gleichzeitig die Hauptschlagader der Stadt. Vom Bahnhof waren es zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde.
Als ich in das Hotel eintrat, wusste ich, was Bornecker gemeint hatte. Mich empfing ein Vestibül mit verschnörkelten, goldverzierten Stuckdecken, von denen ausladende Kronleuchter herabhingen. Die Säulen und Rundbögen an der Seite gaben dem Raum eine herrschaftliche Atmosphäre. An den Fenstern hingen edle Brokatvorhänge. Der Marmorboden spiegelte fast besorgniserregend. Ich ging zur Rezeption und erst da verstand ich, was der Name des Hotels eigentlich bedeutete. Ich kam darauf, als ich auf meinen Pass wartend, den Namen des Hotel-Cafés las: Flober. Komisch, dachte ich, was für ein ulkiger Name, klingt überhaupt nicht russisch. An der Wand hing ein Plakat, das für eine Lesung im Café warb. Das Flober schien ein Literaturcafé zu sein. Auf dem Tresen pries ein Schild Leckereien der hauseigenen französischen Patisserie an. Und plötzlich machte es Klick. Ich las noch einmal und musste lachen. Ich war im Hotel Versailles und das Café war das Flaubert. Das fing ja gut an. So eine Verballhornung … Versal & Flober.
Die Dame an der Rezeption versprühte den Charme einer Dezhurnaja aus fernen Sowjetzeiten. Damals saßen sie nicht nur an der Rezeption, sondern im Aufgang jeder Hoteletage. Rund um die Uhr hielten sie Wache, sorgten angeblich für den Gast, aber eigentlich für Ruhe und Ordnung. Doch der über Jahrzehnte in Fleisch und Blut übergegangene Kommandoton, der bei der ersten Begrüßung noch durchschimmerte, schien auf eigenartige Weise abgeschliffen. Offenbar hatte Marina – ein Schild neben dem Patisserie-Hinweis verriet mir ihren Namen – einen Kurs in „Wie begrüße ich Hotelgäste freundlich?“ absolviert. Sie mühte sich redlich. Schon wieder musste ich lachen.
Mein Zimmer war nicht halb so glamourös wie die Lobby, aber egal, ich hatte ein Dach über dem Kopf und konnte den schweren Rucksack abwerfen. Endlich duschen. Nach dem langen Flug war das dringend nötig.
Als Allererstes wollte ich das Kaufhaus sehen, schließlich das Ziel meiner Reise. Kunst & Albers, das erste Haus am Platze, lag natürlich auch auf der Swetlanskaja. Ich hatte es also nicht weit. Das Kaufhaus war immer noch Kaufhaus, schon von Weitem sah ich die Leute hineinströmen und mit Einkaufstaschen bepackt hinauskommen. Es war komisch. Für mich war es ein mythisch aufgeladener Ort. Bornecker hatte so viel darüber erzählt, ich hatte Unmengen dazu gelesen. Für mich war es viel mehr als einfach nur ein Kaufhaus. Davor stehend fragte ich mich, ob die Passanten eine Ahnung davon hatten, was hier vor über hundert Jahren passiert war. So ein Quatsch, dachte ich.
Eigentlich war schon der erste Blick von außen ernüchternd. Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht lag es daran, dass vieles von dem, was ich gelesen hatte, die Anfangszeit beschrieb. Damals war das stattliche Gebäude das einzige Bauwerk aus Stein und Eisen weit und breit. Die Baumaterialien hatte man extra aus Hamburg per Schiff herangeschafft. Das Kaufhaus thronte wie ein Monolith über der Innenstadt. Ringsherum gab es nur Holzhütten, die Straße war nicht einmal befestigt. Heute sah alles anders aus. Kunst & Albers, das seit der Verstaatlichung unter dem Namen GUM firmierte, war komplett umbaut. GUM war die Abkürzung für „Staatliches Kaufhaus“. Es markierte in jeder sowjetischen Stadt den zentralen Einkaufspunkt. Das berühmteste stand in Moskau, direkt am Roten Platz.
Als ich ins Innere trat, dachte ich, dass der Einkaufstempel zwar immer noch GUM hieß, es aber kein Kaufhaus mehr war, ein staatliches schon gar nicht. Ich bemerkte, dass von den großzügigen Hallen kaum noch etwas geblieben war. Der einstige Glanz war verschwunden. Offenbar hatte man das Gebäude an verschiedene Händler verpachtet und die Mietfläche dementsprechend aufgeteilt. Dafür hatte man umbauen müssen. Was ich sah, war übel: ein Kiosk neben dem anderen, Miniboutiquen, winzige Läden – abgehangene Decken, dazwischen Rigips-Wände. Die prächtigen Räume mit den edlen Holzvertäfelungen, den Regaleinbauten, den Säulen und Stuckverzierungen gab es nicht mehr. Geblieben war nur noch die Hülle. Nur zwei Relikte konnte ich ausmachen: einen Raum im Erdgeschoss mit den schönen Hamburger Mosaikfliesen, mit denen die Fußböden kunstvoll ausgelegt waren, und zwei gusseiserne Heizkörper in einer Nische im Eingangsbereich. Wahrscheinlich hatte man beides bei den Renovierungsarbeiten übersehen. Nur deshalb hatten sie als Überbleibsel einer längst vergangenen Ära überlebt.
Ich ging schnell raus, wollte ich mir nicht gleich den ersten Tag verderben. Der Nebel über der Bucht war verschwunden, herrlichster Sonnenschein empfing mich. Auch wenn ich todmüde war, weil der Jetlag an mir zehrte, wollte ich noch ans Meer. Ich schlenderte die Flaniermeile hinunter zur Strandpromenade und setzte mich ans Ufer. Ja, hier konnte man es aushalten. Die Stimmung war viel entspannter als in Moskau, die Menschen saßen auf Bänken, aßen Eis und flanierten, statt mit Tunnelblick und ausgestreckten Ellenbogen aneinander vorbeizuhetzen. Festpavillons an der Promenade kündigten ein Filmfestival in den nächsten Tagen an.
Ich musste an Zuhause denken. Martin und Paul waren nicht sonderlich begeistert von dieser Reise. Verübeln konnte ich es ihnen nicht, war ich doch erst vor einem Jahr völlig überstürzt auf eine schottische Insel aufgebrochen und drei Monate dort geblieben. Martin beobachtete diese Rastlosigkeit mit Sorge. Doch eigentlich gab es keinen Grund dazu, denn genau genommen war die Tour hierher ein ganz normaler Job und alles war wohlgeordnet. Außerdem wusste er nur zu gut,