Dattans Erbe. Nancy Aris

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Dattans Erbe - Nancy Aris страница 7

Dattans Erbe - Nancy Aris

Скачать книгу

dass er nur alle drei Stunden führe oder heute gestreikt würde. Wenn man es nicht gerade eilig hatte, bot dieses Ritual sogar gewissen Unterhaltungswert.

      Ich brauchte kein Taxi, denn ich hatte gelesen, dass man bequem mit dem Bus ins Stadtzentrum fahren konnte. Oder mit dem kürzlich eröffneten Aeroexpress. Ich ging zum Express und kaufte mir ein Ticket. „Businessclass?“, fragte die Dame am Schalter. Ich entschied mich für ein normales Ticket für 200 Rubel, umgerechnet fünf Euro. Auch das hatte sich verändert. Damals war der Flug von Moskau nach Wladiwostok billiger als der Zubringer in die Stadt heute.

      Das erste Mal hatte ich Siegfried Bornecker in Naumburg getroffen. Wir hatten nach unserem brieflichen Erstkontakt ein paar Mal hin und her gemailt und ich wusste im Groben, worum es ihm ging. Dennoch hatte er sich mit seinem „Auftrag“ noch nicht hundertprozentig für mich entschieden. Mir war klar, dass dieses Treffen die Nagelprobe sein würde. In Naumburg, in der Heimat seines Großvaters, sollten wir uns nun persönlich kennenlernen und er wollte unbedingt seine Schwester Ursula dabei haben.

      Unsere Verabredung erinnerte an ein konspiratives Agententreffen.

      Bornecker reiste aus München an, seine Schwester aus Berlin, ich aus Dresden. Bornecker hatte alles geplant. Er und seine Schwester hatten nur ein kleines Zeitfenster für unser Treffen. Ich war flexibel. Wenige Tage vor unserer Verabredung erhielt ich einen Ablaufplan:

       Liebe Frau Stehr,

       wir bitten Sie, den Zug zu nehmen, der um 10.21 Uhr in Naumburg ankommt (vgl. Ihre Mail vom 5.6.). Meine Schwester wird um 10.24 Uhr ankommen. Wir schlagen vor, dass Sie sich in der Bahnhofshalle vor dem Zeitungsladen treffen. Dann können Sie beide gegenüber beim Bäcker ein Tässchen Kaffee trinken, bis ich mit Ankunft 11.17 Uhr dazu komme. Wir stellen uns vor, dass wir in einer Taxe zum Domplatz fahren, wo es zwei Cafés gibt, von denen wir uns eins für unser Gespräch aussuchen. Um 14 Uhr haben wir einen Termin bei einer der Dattanschen Villen und danach haben wir noch weitere Termine. Daher können wir Sie zum Familiengrab, falls Sie dieses sehen möchten, leider nicht begleiten.

       Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen und mit Ihnen ausführlich und in Ruhe über unsere Pläne zu reden. Ich werde etwas Material, insbesondere die Verbannungsgeschichte, mitbringen.

       Mit freundlichen Grüßen, auch von meiner Schwester,

       Siegfried Bornecker

      Ich mochte konspirative Treffen und ich war gespannt darauf, was mich erwarten würde. Ich hatte recherchiert und zur Vorbereitung einiges über Adolph Dattan gelesen. Wahrscheinlich war das Unglaubliche daran der Grund dafür gewesen, warum ich mich nach meiner spontanen Sympathie für den kryptischen Briefeschreiber Bornecker, sogleich mit Feuereifer in dieses Vorhaben gestürzt hatte, ohne auch nur annähernd zu wissen, was meine Aufgabe sein würde. Bornecker hatte es geschafft, mit seinen spärlichen Hinweisen nicht nur meine Neugier zu wecken, sondern auch eine besondere Verbundenheit herzustellen. Denn ob ich wollte oder nicht, ich spürte eine innere Verpflichtung, der Geschichte auf den Grund zu gehen und der Wahrheit ans Licht zu verhelfen.

      Borneckers Großvater war ein Abenteurer. Im 19. Jahrhundert war er nach Russland gegangen. Dort, im Fernen Osten, hatte er unter widrigen Bedingungen nach und nach ein riesiges Handelsimperium aufgebaut. Den Anfang machten Gustav Kunst und Gustav Albers. Als sie 1864 in Wladiwostok ihr erstes Geschäft eröffneten, gab es dort gerade einmal vierundvierzig Holzhütten. Hier lebten ein paar Fischer, die den Ort Hǎishēnwǎi nannten, die Seegurkenbucht. Dattan kam 1875. Er übernahm bald die Leitung der Wladiwostoker Zentrale und wurde nach elf Jahren Teilhaber der Firma. In wenigen Jahren entstand unter seiner Regie ein Netz von Kaufhäusern und Handelsvertretungen in Russisch Fernost, in der Mandschurei und im chinesischen Grenzgebiet. In der Blütezeit waren es an die vierzig Handelsstandorte. Kunst & Albers schufen eine Infrastruktur, die Handel und kulturelle Entwicklung erst möglich machten. Die Zentrale in Wladiwostok war dabei nicht nur Verkaufsstelle, sondern, wie ich las, auch Bank, Schifffahrtsagentur und Versicherungsunternehmen. Und bald schon besaß das Unternehmen sogar eine eigene Flotte. Ich hatte noch nie etwas von diesen Kaufhaus-Königen gehört und mir war es fast ein wenig peinlich, nichts darüber zu wissen. Bornecker hatte schließlich schon in seinem ersten Brief daran erinnert: „Das erste deutsche Kaufhaus stand nicht in Deutschland, sondern in Wladiwostok!“ Ich hatte es damals für einen abwegigen Gedanken gehalten, für einen Scherz. Jetzt wusste ich, dass es stimmte, jetzt ahnte ich, was alles hinter diesem Satz stand. Aber wer wusste schon davon? Wer kannte diese Geschichte?

      Kaufhäuser … diese altmodischen Einkaufstempel, in die heute keiner mehr ging. Wann war ich das letzte Mal in einem Kaufhaus? Vor Jahren bei Harrots in London, im Lafayette in Paris oder bei Maceys in Los Angelos. Die typischen Touristenmagnete. Man kaufte nichts, sondern staunte nur. Zu Hause ging ich ab und zu in die gut sortierte Lebensmittelabteilung des KaDeWe, ansonsten kaufte ich nichts in Kaufhäusern.

      Früher war das anders. Namen wie Karstadt, Wertheim und das berühmte KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, waren jedem ein Begriff. Vielleicht wusste nicht jeder, dass Hertie ursprünglich Tietz hieß, in jüdischem Besitz war, von den Nazis arisiert und dann in Hertie umbenannt worden war. Hertie – eine Wortschöpfung aus den Anfangsbuchstaben des Eigentümers Hermann Tietz. Aber Kunst & Albers? Die kannte nun wirklich niemand. Zumindest ich hatte noch nie davon gehört.

      Nach meinen ersten Recherchen im Internet besorgte ich mir allerhand Literatur und versank in den nächsten zwei Wochen in einer mir völlig fremden Welt. Fremd vor allem auch deshalb, weil die reiselustigen Unternehmer damals offenbar einen anderen Blickwinkel hatten. Sie hatten eine Region für sich entdeckt, die fernab von begehrten Karriere-Hotspots oder beliebten Urlaubsrefugien lag. Noch heute ist für die meisten der Osten Russlands eine Terra incognita – unerreichbar weit weg und gänzlich unbekannt. Und es stört niemanden, denn eigentlich interessiert sich keiner für diese Welt, die für rückständig und hinterwäldlerisch gehalten wird. Damals war das offenbar anders. Denn obwohl der Ferne Osten tatsächlich rückschrittlich war, schien er auf Gustav Kunst und Gustav Albers keine hinreichend abschreckende Wirkung gehabt zu haben. Je mehr ich las, umso klarer wurde mir, dass sie eine ganz eigene Geografie im Kopf hatten. Auf einer firmeneigenen Landkarte sah ich, dass Russisch Fernost genau in der Mitte ihrer Welt lag, eingebettet von Europa im Westen und Amerika im Osten. Diese für uns Mitteleuropäer ungewohnte Sicht gefiel mir. Vielleicht auch, weil ich in Geografie nie gut war, immer nur mit links und rechts, statt mit West und Ost operierte. Auf dieser Karte fand ich mich endlich darin bestätigt, dass jede Position relativ war und der östlichste Osten irgendwann westlichster Westen sein konnte. Vielleicht war das der Schlüssel. Gustav Kunst und Gustav Albers sahen sich gar nicht im Osten, sondern am westlichsten Zipfel des Westens. Mich beeindruckte, welch abenteuerliche Reisen beide auf sich genommen hatten, um nach Wladiwostok zu gelangen. Sie taten es, obwohl es so unvergleichlich viel komplizierter war als heute und obwohl dort nicht gerade das Schlaraffenland auf sie wartete. Anfangs hatte ich angenommen, dass sie betuchte Kaufleute waren, die dem Zeitgeist folgten und auf Entdeckungsreise nach Fernost aufbrachen. Einfach, um ihrer Hamburger Geschäftsroutine zu entfliehen, um den Alltag mit einer Prise Exotik aufzufrischen und in Geschäftskreisen als verwegen zu gelten. Dann las ich, dass sie alles andere als vermögend waren. Albers war einfacher Seemann und Weltenbummler. Er war fast noch ein Kind, als er anheuerte. Mit vierzehn stach er in See, fuhr nach Chile, Südafrika und Indien. Nach sechs Jahren kehrte er nach Hamburg zurück und legte seine Prüfung zum Steuermann ab. Bei seiner zweiten Fahrt in den Fernen Osten strandete sein Schiff kurz vor der mandschurischen Küste. Albers schlug sich daraufhin nach Shanghai durch. Kunst hingegen war Kaufmann. Nach seiner Kaufmannslehre in Hamburg war er mit zwanzig nach Ostasien gegangen. In Shanghai hatte er eine kleine, mäßig erfolgreiche Handelsfirma gegründet. Als er

Скачать книгу