Dattans Erbe. Nancy Aris

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Dattans Erbe - Nancy Aris

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eine alternative Strecke. Wochenlang war er durch Russland gereist, von einer Poststation zur nächsten. Mit Schlitten oder Kutsche, auf alten Handelsrouten oder Pelzjägerpfaden. Bevor er mit dem Schiff Richtung Pazifik aufbrechen konnte, musste er die Frühjahrshochwasser des Amur abwarten. Dann schipperte er 2 000 Kilometer auf dem mächtigen Strom entlang, immer Richtung Süden. Nach Monaten der Reise lernte er in Shanghai Albers kennen. Beide wurden Freunde und beschlossen, gemeinsam ein Unternehmen zu gründen. Sie waren damals Mitte zwanzig. In Deutschland schienen sie keine Zukunft für sich zu sehen. Aber auch von Shanghai versprachen sich beide nichts. Auf der Suche nach einem günstigen Standort kamen sie schließlich auf eine Gegend, die sie beide als Durchreisende kennengelernt hatten: die Amur-Bucht. Sie kauften eine Warenladung Lebensmittel, Stoffe und Werkzeuge. Dann charterten sie ein Schiff, die Meta. Sie war der Anfang von allem.

      Ich versuchte mir das vorzustellen. In den Artikeln hatte ich nichts darüber gefunden, ob beide Russisch konnten. Aber selbst wenn. Man wäre damit nicht weit gekommen, lebten doch vor allem Chinesen, koreanische Fischer und irgendwelche nordsibirischen Ureinwohner in Wladiwostok. Stämme, von denen ich noch nie etwas gehört hatte: Jurchen, Mandschu und Golden.

      Was also mochte sie damals dazu bewegt haben, sich in dieser gottverlassenen Einöde anzusiedeln? Eine Gegend, in der von September bis Mai Winter herrschte, wo es gerade einmal ein paar Holzhütten mit nicht einmal hundert Einwohnern gab? Mir war es unbegreiflich, denn Wladiwostok war ein winziger Marinevorposten, der gerade zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Dort gab es weder die Verlockungen einer Großstadt, die die gebürtigen Hamburger aus eigenem Erleben kannten, noch die klimatischen Vorzüge südlicher Gefilde. Vielleicht war es einfach der Erfolg, der sie beflügelte und die unendlichen Möglichkeiten, die sie als Unternehmer in Wladiwostok hatten. Sie waren jung, hier konnten sie ausprobieren, was in Hamburg nie gegangen wäre. In kürzester Zeit wurden sie unsagbar reich. Mit dem Ersten Weltkrieg kam der Niedergang. Die Deutschen waren schließlich Kriegsgegner. Adolph Dattan wurde wegen Spionage verhaftet und für Jahre ins Innere Sibirien verbannt. Dann kamen die Bolschewiki an die Macht. Wladiwostok erreichten sie 1925. Sie läuteten unwiderruflich das Ende ein. Das Unternehmen hielt sich trotzdem noch bis 1930.

      Was passierte in den letzten Jahren und wie konnte das alles überhaupt gehen?

      Mit diesen Fragen und den ersten, eher diffusen Eindrücken kam ich nach Naumburg, wo ich Siegfried Bornecker und seine Schwester Ursula treffen sollte. Die Bahn machte dem perfekten Ablaufplan Borneckers einen Strich durch die Rechnung. Beide hatten Verspätung. Ich wartete wie verabredet in der Bahnhofsbäckerei.

      Zuerst kam Ursula, eine kleine, zierliche Dame mit offenem und interessiert verschmitztem Blick. Ursula ging am Stock. Den habe sie nur, erklärte sie lachend, weil die Passanten so furchtbar nett wären. Seitdem sie den Stock habe, würde man in der Bahn für sie aufstehen und ihr sogar die Einkäufe in ihre Wohnung tragen. Im rauen Berlin war das etwas wert. Eigentlich bräuchte sie ihn nicht, denn sie sei noch gut zu Fuß. Und in der Tat, vor mir stand eine agile Person, die ich deutlich jünger geschätzt hatte. Ursula lächelte und ihre wachen Augen verliehen ihr trotz ihres hohen Alters einen Hauch Jugendlichkeit. Kaum hatte sie Platz genommen, erzählte sie von ihrem Leben und überhäufte mich mit einem Schwall an Fragen. Dann hielt sie plötzlich inne, griff meinen Arm, schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst.

      „Ich weiß, ich weiß. Ich bin immer so. Aber ich kann mich nur schwer zurückhalten, denn mich interessiert so vieles … Was mich aber am meisten interessiert, ist, wie Sie zu Russland gekommen sind? Was hat Sie zu den Russen gebracht?“

      Ich fand sie großartig und dachte etwas beklommen an Paul, meinen achtzehnjährigen Sohn, und an diese Facebook-Generation, die so überhaupt nicht neugierig schien und offenbar nie den Drang verspürte, jenseits von Wikipedia einer Sache auf den Grund zu gehen. Die Gemütlichen, die kaum noch aus ihren Zimmern rauskamen, die keine Fragen stellten, nicht provozierten, sondern sich mit einem Brei aus Filmchen, lustigen Spots und den Posts der „Freunde“ begnügten. Dieses Rumhängen machte mir manchmal Angst.

      Ich erzählte Ursula wie alles angefangen hatte. Nach einer Viertelstunde waren wir so ins Gespräch vertieft, dass sich Siegfried Bornecker vor uns stehend durch lautes Räuspern bemerkbar machen musste. Alle drei lachten wir. Auch Bornecker sah viel jünger aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er trug einen Rucksack, der überhaupt nicht zu seinem Mantel aus edlem Zwirn passte. Bornecker war braun gebrannt und wirkte insgesamt sehr vital, keineswegs wie ein Rentner jenseits der achtzig. Er meinte, er käme gerade aus Italien – Skifahren in den Dolomiten. Von München aus sei das ja nicht weit …

      Wie geplant fuhren wir mit dem Taxi zum Dom und gingen in eines der beiden Gasthäuser. Siegfried Bornecker ging zielstrebig voran und wählte einen geeigneten Tisch für unser Vorhaben – hell genug und groß genug. Es war bizarr, denn er betrachtete den Schankraum als sein ausgelagertes Büro. Bornecker nahm den Tisch in Beschlag, breitete Unterlagen darauf aus und schickte den Kellner, der unsere Bestellung aufnehmen wollte, zwei Mal weg. Ich fragte mich, ob das der übliche Gang der Dinge war, wenn sie für ein paar Stunden nach Naumburg einflogen, um ihre Geschäfte zu erledigen. Der Kellner tat mir leid, aber ich wollte mich nicht einmischen. Wir hatten so viel zu erzählen, dass auch ich es als störend empfunden hätte, etwas zu essen. Als der Kellner den dritten Anlauf nahm, bestellten wir schließlich.

      Ich mochte beide auf Anhieb. Die Art, wie sie von ihren Großeltern sprachen, die Ernsthaftigkeit, mit der Siegfried Bornecker versuchte, die letzten Rätsel des Verschwindens seines Großvaters zu entschlüsseln, ohne dabei verbohrt zu sein, imponierte mir. Und mir gefiel eines ganz besonders. Obwohl die Familie damals den Großteil ihres Besitzes verloren hatte, Adolph Dattan ohne Grund in der Verbannung hatte ausharren müssen und dann von Sowjets zur Geschäftsaufgabe gezwungen wurde, hegten sie keinen Groll gegen Russen. Vielleicht war es einfach zu lange her. Siegfried und Ursula waren in Hamburg groß geworden, sie hatten nie einen unmittelbaren Bezug zum Naumburger Familiensitz gehabt, weil dieser in der „Ostzone“ lag. Sie hatten nie in einer Diktatur gelebt und deshalb betrachteten sie das Unrecht, das der Familie angetan wurde, nie als ihrige. Es war etwas, das nicht unmittelbar sie betraf. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass Adolph Dattan trotz des immensen Verlustes nicht als Armer zurückgekehrt war. Er hatte seiner Familie einiges hinterlassen, zumindest schienen sie nicht an materieller Not zu leiden. Was sollten sie also verflossenem Geld nachtrauern?

      Kaum hatten wir gegessen, kam auch schon der Schornsteinfeger, um die Kehrmodalitäten für verschiedene Immobilien zu klären. Auf dem Tisch häuften sich die Papiere. Einzugsermächtigungen wurden erteilt, Rechnungen geprüft, Gutachten in Auftrag gegeben. Immerhin durfte der Kellner jetzt ohne zweite Nachfrage einen Kaffee bringen. Es amüsierte mich, Ursula und Siegfried bei ihren Geschäften zu beobachten, weil sie so normal bodenständig waren und fast beschaulich wirkten, obwohl sie hier am Tisch Millionenobjekte verwalteten.

      Der Handwerker verschwand und uns blieb nur noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Termin in der Dattan-Villa. Bislang hatten wir nur geplaudert, aber nichts Handfestes verabredet. Ich wusste nicht einmal, ob ich nun die Richtige war. Offenbar hatte Siegfried Bornecker bemerkt, dass ich darüber nachdachte.

      „Wissen Sie Frau Stehr, wir wollen niemandem schaden. Wir wollen nichts zurückhaben. Jahrzehntelang haben wir nicht einmal gewusst, dass es das alles noch gibt – die Kaufhäuser, die Wohnhäuser, das Elektrizitätswerk und die Landhäuser. Meine Mutter hatte mir von klein auf eingetrichtert, dass ich nie nach Russland fahren dürfe, weil dort das Böse warte. Ich musste ihr das hoch und heilig versprechen. Und daran habe ich mich gehalten. 1997 ist sie dann gestorben und drei Jahre später bin ich das erste Mal gefahren. Es war wie eine Reise in eine andere Welt. Die Vorstellung, dass mein Großvater dies alles mitgeschaffen haben sollte, kam mir fast unheimlich vor. Ab da begann mich das ganz konkret zu interessieren, weil ich ein Bild im Kopf hatte. Ich fing an, nach allen nur denkbaren Hinweisen zur Familiengeschichte zu suchen. Und ich erfuhr, dass mein Großvater offenbar Tagebuch geführt hatte. Ich wusste es von Georg Albers. Er hatte die Geschäfte

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